Der Tag ist hell, ich schreibe dir
schon Theater, dann würde ich gern Regie führen, sehen, wie die Sprache Körper wird, wie aus den Figuren auf dem Papier lebendige Wesen werden. Und dass man mit anderen zusammen arbeitet. Das Stück, das wir an der Uni gemacht haben, hat mir großen Spaß gemacht.«
» Regie? Ach du lieber Himmel!«, entfuhr es Julius. » Ich kann dich nicht verstehen!« Seine Stimme wurde nüchtern.
» Aber –«
» Ich kann es absolut nicht verstehen und ich finde es nicht richtig.«
» Es ist ja schlimmer mit dir als mit meinen Eltern«, rutschte es Helen heraus. Julius verzog kurz das Gesicht. Dann lächelte er.
» Helen, es geht sicher vorbei. Vielleicht brauchst du das. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass du deine Begabung verfehlst. Ich habe mir das jetzt all die Jahre angesehen. Deine Entfremdung von der Universität. Dein Unwille, dort Karriere zu machen, obwohl du die Möglichkeit gehabt hättest. Das habe ich akzeptiert und, wenn du dich erinnerst, gutgeheißen. Ich bin davon ausgegangen, dass du dich dann freier auf das zubewegst, was du willst. Aber Helen –«, er fasste nach Helens Hand und quetschte sie so heftig, dass Helen Tränen in die Augen schossen, » so geht das nicht! Mädel, fotografier, von mir aus, probier das Theater aus, gern, aber nimm es als etwas, worüber du dann schreibst. Ich will deinen ersten Roman lesen, bald, die Zeit läuft! Du musst dich jetzt mal entscheiden! Man kann im Leben nicht ewig ausprobieren!«
Helen saß vor Julius wie ein begossener Pudel. Der Mensch, von dem sie sich in den letzten Jahren vorbehaltlos begleitet gefühlt hatte, hielt ihr eine Standpauke. Er wollte sie zu irgendetwas zurückholen, das sie gerade abgeschüttelt hatte.
» Oh, Helen, bitte nicht! Nein! Nicht weinen!«
Er holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte über den Tisch hinweg ihre Augen, sie nahm es ihm ab. Sie hasste sich dafür, dass sie bei Aufregung immer gleich in Tränen ausbrach.
» Warum ist es so schlimm?« Sie schnaubte lautstark.
» Warum?«, fragte Julius. » Das muss ich doch wohl dich fragen?«
» Die Sprache wird von dem beherrscht, was sie verschweigt«, sagte Helen. » Gespräche werden von dem bestimmt, was nicht gesagt werden darf, und deshalb will ich mit der Sprache nichts zu tun haben!«
Sie war von ihren Worten selbst überrascht. » Zumindest im Moment nicht«, fügte sie leise hinzu.
» Aber wovon redest du? Das ist ja das Allerneuste. Was meinst du denn überhaupt?«
» Alles. Das, was du mir nicht sagen darfst. Das, was du mir von dir nicht erzählen willst. Das, was meine Mutter mir über ihr Leben nicht sagen will. Das, was mir mein Vater über sich nicht sagen will. Das, was ich nicht wissen darf, von diesem oder jenem, den ich frage. Das, was ich immer sagen würde, weil ich so schlecht die Klappe halten kann. Wenn ich die Kamera in die Hand nehme und abdrücke, dann sehe ich, was ich sehe. Dann kann mir niemand sagen, da ist nicht das, was du siehst. Wenn ich in der Dunkelkammer stehe und das Bild langsam hervortritt, erkenne ich, was ich gesehen habe. Ich lerne, dass ich den Ausschnitt noch etwas anders machen könnte, dass ich das Licht falsch eingeschätzt habe, dass ich einen anderen Winkel ausprobieren könnte.«
» Ach, Lilja«, sagte Julius und ließ fassungslos die Hände auf die Beine schlagen, » du glaubst, das ist der Wahrheit näher? Näher als die Worte, in die du etwas fasst? Wie stellst du dir das alles vor? Das sind doch Fluchtbewegungen! Fotografien werden genauso verfälscht wie alles andere auch. Das ist doch – das ist doch, entschuldige bitte, alles etwas pathetisch! Es ist absolut – es ist einfach alles ganz unrealistisch.«
Er beugte sich nach vorn und griff nach ihrer Hand. Er rückte mit seinem Stuhl dicht neben ihren und hielt ihre Hand fest. Sie sagte nichts mehr, sie war verletzt.
» Dann stell mir jetzt die Fragen, die du beantwortet haben willst! Vielleicht würde ich sie dir ja beantworten!«
Helen sah Julius an. Das Gespräch hatte eine so seltsame Wendung genommen, alles war so aufgewühlt. Seine helle Haut war gerötet, das linke Auge schien aus einer anderen Entfernung zu schauen als das rechte, seine Lippen waren zusammengepresst. Plötzlich musste sie wider Willen lachen, wieder so eine Übersprungsreaktion, das Lachen platzte einfach aus ihr heraus.
» Aber Julius, jetzt mal ehrlich, in fünf Minuten ist unsere Zeit hier um, Herr Lippens wird sich einen Scheiß drum kümmern, ob wir gerade
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