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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Julius, damals noch Herr Turnseck für sie, musste ihr leider mitteilen, dass die Verhandlungen noch nicht an dem Punkt angelangt seien, dass er gehen könne, aber wenn es ihr nichts ausmache, würde er gern seinen Fahrer schicken, Herrn Lippens, sofern sie Lust habe, ihn dann etwas außerhalb von München abzuholen und zum Flughafen zu begleiten. Sie hätten dann immerhin eine dreiviertel Stunde miteinander.
    Eine dreiviertel Stunde. Helen knetete die Schnur des Telefons mit der freien Hand, Vorfreude und Aufregung sackten zusammen.
    » Schnell, Helen, ja oder nein?«
    » Na gut«, sagte Helen, » besser so als gar nicht.«
    » Fein, Herr Lippens ist gleich bei Ihnen. Ich freu mich!«
    Vielleicht trug Herr Lippens gar keine Handschuhe beim Autofahren, ich gebe ihm welche, weil es mir gefällt, dass er sie trägt, aber ich bin mir fast sicher, dass er welche hatte. Jahr um Jahr, seit ich ihn kenne, werden diese Handschuhe, aus feinem, aber festem braunen Leder mit einem Geflecht aus hellbrauner Baumwolle auf dem Handrücken, anschmiegsamer und weicher, ich weiß auch, woher ich solche Handschuhe kenne, mein Vater trug welche, wenn er längere Strecken fuhr, seine immer etwas rauen, kräftigen Rudererhände, die es Zeit seines Lebens blieben, wirkten dann plötzlich fremd und elegant.
    Vielleicht hat Herr Lippens mir auch gar nicht jedes Mal die Hand gegeben.
    Er hat seinen Chef überlebt, ich könnte ihn leicht fragen, ich könnte ihn anrufen und in ein langes, kompliziertes Gespräch verwickeln und sagen, hey, Herr Lippens, haben Sie damals eigentlich Handschuhe beim Fahren getragen, aber ich weigere mich ihn anzurufen, denn ich weiß: Herr Lippens stirbt jedes Mal aufs Neue, wenn er daran denkt, dass er seinen Chef überlebt hat, wenn er nach ihm gefragt wird, ich weiß es, es verbindet uns, ohne dass wir jemals danach miteinander gesprochen hätten. Ich fühlte mich nicht zugelassen, ihn anzurufen und zu fragen, wie geht es Ihnen denn, so als wäre ich dafür zuständig, wie ein Teil der Familie,
    nein, ich fühlte mich nicht eingeschlossen in dieses Gebiet, auf dem ich so etwas hätte tun können.
    Helen nickte und sah sich automatisch um. Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr wie in ihrer vertrauten Straße, sondern wie in einem Politthriller, in dem Scharfschützen auf Dächern hocken und warten. Die schwarze Limousine mit den Sicherheitsfenstern glänzte in der Sonne, blank gerieben, damals standen keine dicken Autos in dieser Straße, später schon, nachdem die Sanierungen viele alte Vermieter vertrieben hatten, die Geschäfte neu und teuer und die Restaurants schick geworden waren, aber damals nicht. Damals standen rostige Familienkarren herum, und Helen dachte, wie peinlich, jetzt denken die Leute, diese beiden fetten Autos gehören zu mir, womöglich kommt Zeliha um die Ecke auf dem Rad, Helen hatte ihr gar nichts erzählt von ihrem Freund, dem Bankier, oder irgendjemand sonst käme um die Ecke und würde sagen Mann, wer war das denn? Dein Vater? In so einem Schlitten? Es war nur ein Gedanke nebenher, sie hatte auch keine Gelegenheit, die beiden Männer im anderen Wagen genauer anzusehen, denn Julius fasste sie an der Hand und zog sie wie immer an sich.
    Helen umarmte Julius. Sie konnte nicht wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Auf offener Straße standen sie dicht beieinander, sie nahm seinen Geruch auf, den sie mochte, die Haut an seinen Wangen, die frisch rasiert waren, den glatten Stoff des leichten dunkelgrauen Sommeranzugs.
    » Mach dir keine Gedanken«, murmelte er, und sie winkte ihm hinterher, und es war das letzte Mal, dass er sich umwandte, winkte, mit seinem halb ernsten, halb lächelnden Gesicht.
    3
    Leidenschaften gehören nicht zum Menschen als etwas Natürliches. Sie sind immer Ausnahme oder Auswüchse. Bei wem sie das Maß überschreiten, der muss sich als Kranken betrachten und durch Arznei für sein Leben und seine Gesundheit sorgen. Leidenschaften müssen bald vergehen, oder man muss sie vertreiben.
    Johannes Brahms, am 17.10.1857
    » Du bekommst dein Weitwinkelobjektiv zu Weihnachten. Wenn du es dir wünschst, freue ich mich, es dir zu schenken. Ich schicke dir das Geld.«
    Auch Helens ersten eigenen Fotoapparat, eine Nikon, hatte Julius ihr zum Geburtstag geschenkt.
    4
    Die Seele hat Fluchtmomente –
    Wenn sie die Türen sprengt –
    Herumtanzt einer Bombe gleich,
    sich auf die Stunde schwingt
    Emily Dickinson
    Der Wald, der wie alle Wälder seine Blätter im Herbst abwirft.

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