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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Der Mann, der dort seit fünf Wochen Stellung bezogen hat, knapp verdeckt von den Bäumen, sieht auf das Haus.
    An dieser Stelle könnte die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen. Gabriel könnte seine Haltung ändern. Er könnte fortgehen, ohne ein Wort, eine Adresse, einen Plan. Er könnte beim nächsten Treffen mit den anderen seinen Beschluss bekanntgeben, sich den Vorwürfen, dem Hass der anderen aussetzen, ihren Versuchen, ihn abzustrafen, auf Linie zurückzuzwingen, oder ihn unter verletzenden Beschimpfungen hinauszuwerfen. Dieser Weg war ausgeschlossen. Gabriel wusste das. Sie müssten befürchten, dass er den Plan aufdecken könnte. Seine Loyalität war nicht umsonst wieder und wieder den härtesten Proben unterworfen worden. In den absurdesten Situationen hatte er sie unter Beweis stellen müssen.
    Gabriel wusste, dass jede Überlegung in diese Richtung sein Leben gefährdete. Er war sich der Sache sicher. Ihm war klar, dass die Anziehung, die er in den letzten Tagen immer wieder in sich aufkommen spürte, aus der intimen Situation resultierte; er hatte genügend Schulungen hinter sich, in denen sie solche Situationen analysiert, genau diese Problematik durchgespielt hatten. Die Dunkelheit, in der er stand, die Helligkeit des Hauses, in der sie sich bewegte – so stellte er sich die Spannung zwischen einem Maler und seinem Modell vor, nur dass das Modell nicht unwissend beobachtet wurde, sondern den Blick zurückgeben konnte.
    Pia Turnseck gab den Blick nicht zurück. Hätte sie ihm nur ein einziges Mal in die Augen gesehen, wer weiß, was geschehen wäre. Wenn Gabriel mehrere Stunden in der Dunkelheit gestanden hatte und eine leichte Müdigkeit in seinen Körper kroch, ein leichtes Nachlassen der Aufmerksamkeit, ein Nachgeben der Spannung, ertappte er sich, dass er auf sie wartete. Dass er unruhig wurde. Er wollte sie sehen. Oder, wenn sie längere Zeit in der Küche beschäftigt war, ein Essen vorzubereiten, dass er auf ihren Blick wartete.
    Sie sah nicht einmal aus dem Fenster. Sie war eine energische Person, absolut nicht die Sorte Frau, die verträumt innehielt und hinaussah. Sie verrichtete ihre Handgriffe präzise, einem übersichtlichen Plan folgend; sie zerknüllte sofort das Papier, aus dem sie Käse, Wurst oder Fleisch genommen hatte, und warf es in den Mülleimer, oder sie faltete es glatt, wenn sie es wieder benutzen wollte. Nichts Überflüssiges ließ sie auf der Arbeitsfläche liegen, sie wischte sie sauber, sobald ein Vorgang abgeschlossen war. Manchmal wünschte sich Gabriel, er könnte das Essen riechen, aber der Wind trug den Geruch selten in seine Richtung, er stellte ihn sich vor, und manchmal bekam er einfach Appetit auf das, was er sah. Immer genauer versuchte er zu erkennen, welches Gemüse sie putzte oder welches Obst sie wusch, welchen Käse sie gekauft hatte, bei welchem Geschäft, und einmal erwischte er sich dabei, wie er im Supermarkt nach einer ähnlichen Packung griff.
    Gabriel kannte den Grundriss des Hauses. Es lag als letztes in einer Reihe mit anderen am Rand der Stadt; es grenzte an den Wald; nur die Küche zeigte dort hinaus. Wohn- und Schlafzimmer waren nur aus einiger Entfernung und von der Seite des Gartens her einzusehen, man hätte sich auf das Grundstück begeben müssen. Büsche wuchsen mannshoch am Zaun entlang.
    Gabriel konnte jeden kommen sehen, der sich dem Haus näherte und es betrat; dann brauchte er sich nur um einige Meter zu bewegen, um Einblick in die Küche zu nehmen. Er wusste, wie lange welche Wege im Haus dauerten, und er kannte die Gewohnheiten und Routinen seiner Bewohner nach zwei oder drei Wochen sehr genau. Jeden Morgen um sieben verließ Julius Turnseck das Haus; jeden Morgen um sieben Uhr dreißig folgten Pia Turnseck und das Kind; und jeden zweiten Tag kam um acht Uhr eine Haushälterin. Pia kehrte entweder gleich von der Schule zurück oder später am Tag. Er kam selten um halb acht, oft später, und am Wochenende blieb er bis auf Ausnahmen zu Hause. Die Abläufe waren sehr ähnlich. Die Observation erstreckte sich über mehrere Wochen, man wollte sichergehen, in jeder Hinsicht. Anhand ihrer Einkäufe konnte er erkennen, ob Gäste kommen würden oder ob sie nur mit ihrem Mann eine Kleinigkeit zu sich nehmen würde, am Abend, er konnte sehen, ob es nur eine Handvoll Freunde wären, die kämen, oder viele Gäste. Es gab nur äußerst selten eine größere Gesellschaft, für die ein Koch engagiert wurde und eine Serviererin.
    Um sechs Uhr

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