Der Tag ist hell, ich schreibe dir
es war ein Hinsehen, kein Ansehen. Sie las nun immer häufiger am Morgen, nachdem sie das kleine Mädchen in die Schule gebracht hatte, in der Küche die Zeitung. Sie nahm sich eine Tasse Kaffee aus der Maschine, trank hastig; sie blätterte rasch, fast fahrig schlug sie die Seiten um. Manchmal notierte sie sich etwas auf einem Blatt Papier oder einem Zettel; sie faltete die Zettel so sorgfältig zusammen wie sonst das Wurstpapier und legte sie auf einen Stapel. Wusste oder ahnte sie etwas? War ihr Mann gewarnt worden?
Die schwarze Limousine nahm nun jeden Tag einen anderen Weg; viele gab es nicht, im Grunde nur drei Möglichkeiten, unregelmäßig wurden sie variiert. Vom Haus aus nach links, dann nach wenigen Metern gleich rechts oder links, oder nach rechts und geradeaus, durch das Waldstück, an dessen Anfang und Grenze er sich befand, er, Gabriel. Man brauchte ein gewisses Maß an Beweglichkeit, darauf zu reagieren; lange würden sie nicht mehr warten. Gabriel beobachtete und berichtete. Das war seine Aufgabe.
5
Ich kann nicht, ich kann nicht. Wie oft sagte sich Helen diese drei Worte, als sie daran ging, die Geschichte mit Julius aufzuschreiben. Ich kann nicht, sagte sie nach den langen Telefonaten mit den alten Herren, die auf dieselbe Schule gegangen waren wie Julius, der ihr davon nichts mehr erzählen konnte.
Sie schob die Videokassette in den Videorekorder, die ihr Vater ihr damals aufgenommen und geschickt hatte. Sechs Wochen vor seinem Tod, nur vierzehn Tage vor dem Mauerfall, hatte Julius im Fernsehen ein längeres Interview gegeben. Im dunkelbraunen Anzug mit schmalen hellen Streifen hatte er auf dem Sessel gesessen, etwas steif, stark geschminkt, und nichts war mehr in seiner Haltung von dem verrückten, unruhigen Jungen in der Talkshow, bei der Helen ihn kennengelernt hatte. Sieben Jahre lagen dazwischen. Der Aufstieg zum alleinigen Vorstandssprecher seiner Bank. Der Aufstieg zu einem der einflussreichsten Manager der Bundesrepublik Deutschland. Der Aufstieg, dessen Anfang Helen miterlebt hatte und den sie begleitet hatte, von ihrem fernen und doch immer wieder nahen Posten aus.
Julius’ Haut spannte leicht unter dem Make-up, es ließ ihn älter aussehen, die Mimik war weniger beweglich. Er hielt die Hände ruhig auf den Armlehnen oder verschränkte sie. Er hatte ein Bein übergeschlagen, das Hosenbein rutschte hinauf und zeigte die perfekt passende, unauffällige dunkle Socke. Er antwortete langsam und konzentriert.
Helen hatte das Video damals nicht angerührt. Sie hatte die Sendung selbst gesehen und keine Wiederholung gebraucht. Es gab damals Wichtigeres zu tun als Wiederholungen anzusehen. Den ganzen Tag lief sie in der Stadt herum, fuhr kreuz und quer, vom Westen in den Osten und zurück: Die Mauer war gefallen, unfassbare Ereignisse von historischem Ausmaß fanden statt, und sie erlebte sie mit. Julius hatte nach der Sendung angerufen und hatte gefragt: » Wie war ich?« – » Ein bisschen steif«, hatte Helen gesagt, » aber ansonsten sehr gut. Sehr genau.« – » Meinst du?«, hatte Julius nachdenklich gefragt. » Denkst du, es war richtig?« – » Ich denke schon«, sagte Helen, überrascht, dass er überhaupt fragte.
Herzlos und besessen, wie sie war, hatte sie nicht mitbekommen, wie tief mittlerweile seine Zweifel an sich selbst, seinen Aufgaben und seiner Position waren. Sie war berauscht von den Ereignissen in der Stadt, die, was Julius allerdings sehr freute, ihren Schreibfluss wieder in Gang setzten, Katarakte waren es, seitenlang, wild hingekritzelt, in denen sie ihn aufforderte, den Osten nicht zu kaufen, die Menschen nicht zu überrennen, etwas von ihnen auch anzunehmen, die Zeit für Reformen zu nutzen, seinen Einfluss geltend zu machen, auf den sie setzte, komm, es ist Zeit für etwas ganz Neues, genauso wie sie am Telefon redete und redete, wenn Julius sie fragte, was sie erlebt hatte. Am Abend nach der Maueröffnung hatte sie mit Tausenden vor dem Schöneberger Rathaus, die Würde des Menschen ist unantastbar, gestanden und Freude, schöner Götterfunken mitgesungen, über das offizielle Deutschlandlied hinweg, das die Politiker einer anderen Generation nun anstimmten, vorn auf dem Podium, zu Tränen gerührt alle miteinander, die Patrioten wie die Nichtpatrioten, die Stadt ist frei, die Mauer ist gefallen, unfassbar, unvorstellbar, und schon der Streit, ob es nun heißen müsse Wir sind das Volk oder Wir sind ein Volk. Helen veröffentlichte Fotos in verschiedenen
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