Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Zeitungen, Vopos an der Grenze, Männer und Frauen vom Neuen Forum, zu deren Treffen in Leipzig Helen mit Simon gefahren war, ein bärtiger Mann mit seinem Kind auf den Schultern, eine alte Frau mit großen Zahnlücken, die eine Banderole quer über die Brust trug, » Neues Forum – Freiheit!«, unfassbare Aufbruchsstimmung, Menschentrauben auf den S-Bahnhöfen und in den S-Bahnen, auf dem Weg in den Westen, ins KadeWe, zu Beate Uhse am Zoo, zu Verwandten, in die Geschäfte, in die Straßen, ohne Ziel, verwischte Menschengestalten, am Abend, die mit Plastiktüten in den Händen in den Osten heimkehrten, über die Straße eilten, Beutelgermanen, wie sie liebevoll spöttisch genannt wurden, aber auch das leergefegte Café im Ephraim-Palais, mit dem verloren lächelnden Servierfräulein mit der kleinen weißen Schürze. Sie schickte Julius einen ganzen Stapel Fotos, den sie als Dokument der Tage der Maueröffnung für ihn zusammengestellt hatte.
Der Umschlag mit diesen Bildern lag auf seinem Schreibtisch zu Hause. Sie sah ihn, als Pia sagte, oben steht Julius’ Schreibtisch, geh ruhig hinauf und sieh dir an, wo er immer gesessen hat, als sie nach der Trauerfeier im Dom mit ins Haus der Familie gefahren war. Julius’ Schreibtisch stand auf einer Zwischenetage, die zum unteren Teil des großzügigen Wohnraums geöffnet war. Er hatte von seinem Arbeitsplatz sehen können, was Pia und die Kleine machten, er konnte durch das große Fenster hinaus in den Garten sehen.
Der Mann, der das Haus wochenlang beobachtet hatte, konnte ihn an dieser Stelle nur sehen, wenn abends das Licht an war und niemand die Vorhänge zum Garten hin zugezogen hatte und er sich einige Meter von seiner sonstigen Position fortbewegt hatte.
Ich bin mir sicher, dass sie die Vorhänge selten zugezogen haben.
Julius hatte einige wenige Male von diesem Schreibtisch aus mit Helen telefoniert; einmal, ganz am Anfang, hatte sie das Kind im Hintergrund spielen hören, das kleine Stimmchen, halb singend, halb rufend, wie kleine Mädchen sprechen, wenn sie spielen. Sie selbst, Helen, hatte mit dem Telefon in der Hand, dem Hörer am Ohr, auf dem Balkon des Hauses ihrer Eltern in der Sonne gesessen, auf den roten Backsteinen, und sich von einem Moment auf den anderen verloren gefühlt. Dabei hatte sie doch an seiner Stimme gehört, dass er sie ins Herz geschlossen hatte, einfach so und ohne Plan.
Jetzt, während ich dies aufschreibe, muss ich an Hugo Wolf denken und nicht an Brahms, obwohl das sicher besser wäre, für die geschlossenere Form des Romans, die ich nicht so sehr liebe, so oder so, die lügen würde, die vorgeben würde, die Literatur könnte zerrissene Körper wieder zusammenfügen, also von mir aus für das Gewebe dieses Buchs, für die aufeinander bezogenen Verweise, Spiegelungen und Reflexionen, die auch schön sind, wenn sie nicht geschlossen sind, weil sie der Versuch sind, einen Zusammenhang herzustellen, für mich, für mein Leben, für die Geschichte, die wir erfinden und dann unser Leben nennen, wie Max Frisch es einmal geschrieben hat – ohne all das zu berücksichtigen also, denke ich an ein bestimmtes Lied von Hugo Wolf: So lass uns, liebes Leben, Frieden schließen … Eine traurige Melodie, die sich selbst überreden will, fröhlich zu sein, sich zu versöhnen, und die doch weiß, es geht nicht, es geht nicht, auch wenn der Wunsch noch so heftig sein mag.
Ich kann nicht, denke ich, ich kann nicht, doch ich schreibe immer weiter, denn wenn ich aufhöre damit, ist es umso schlimmer, dann gehst du mir vielleicht verloren. Lass uns, du liebes Leben …
Inzwischen lebt mein Vater nicht mehr, und meine Mutter liegt am Nachmittag oft auf diesem Balkon, auf dem ich damals hockte, als ich die ersten Male mit dir telefoniert habe, und liest ein Buch. Sie sitzt im Stuhl oder liegt auf der Liege, ihre Knie und ihr Rücken machen nicht mehr so mit, zu lange hat sie auf dem Betonboden in der Küche gestanden, meine schöne Mata Hari-Mutter, und jeden Tag denke ich an sie und will nicht, dass sie stirbt.
Mein Vater, der die Handtücher Kante auf Kante legt. Mein Vater, dem manchmal alles über den Kopf wächst. Der die Spannung im Kopf nicht mehr aushält. Den Splitter im Kopf. Die Arbeit. Die Menschen. Die fragen, wünschen, sich beschweren. Für die er niemals gut genug zu sein scheint. Die Gerüche, Geräusche, das Klappern des Bestecks und der Teller. Leer gegessen, auf Stapel geknallt, in der Eile, niemand kommt so schnell nach, sie
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