Der Tag ist hell, ich schreibe dir
sehnsüchtigen Augen an und sagt: Geh nur mein Kind, du musst dein Leben leben. Komm nur wieder, von Zeit zu Zeit.
Mata Hari fragt sich, wem sie da wohl ihre Briefe schreibt. Ob es eine Fantasie ist. Dann aber hörte sie die Stimme am Telefon. Er erzählt von Brahms, er sei in einem Konzert gewesen, Klavierstücke, und die Sonate opus 5 in f-Moll , und habe an sie gedacht. Die Musik war groß, sagt er.
Mata Hari wird zum Mädchen. Das Mädchen fährt in die Stadt und kauft eine Platte von Brahms, opus Nr. 5. Sie hört sie, immer wieder, und plötzlich kann sie die Musik nicht mehr ertragen und läuft hinaus in den Wald.
Etwas in mir war völlig verändert, doch ich bekam es nicht zu fassen. Es war nicht die Verliebtheit, die hatte ich schon ein paar Mal erlebt. Es war etwas ganz Sonderbares, es hatte mit den Tränen in der S-Bahn zu tun, und der Ratlosigkeit, was ich denn mit dem, was da in Bewegung geriet, anzufangen hätte. In unserem Deutschleistungskurs diskutierten wir über Goethes Faust und Camus’ Meursault, den Helden aus dem Roman Der Fremde. Ob Faust das Gretchen wirklich liebe und ob Meursault Maria » nur« begehre und ob für Meursault nicht alle Frauen austauschbar seien. Als ob wir über diese Dinge schon etwas wüssten. Jeden Tag nach der Schule besuchte ich Opa, der in seinem Krankenhaushemdchen schon wieder Kniebeugen machte, und fuhr in den Club. Trotz des wechselhaften Wetters war das Restaurant seit Anfang März geöffnet; die Golfer gingen unverdrossen ihrem Sport nach. Ich legte Tomatenscheiben und Petersiliensträußchen als Dekoration auf die Teller und trug sie hinaus, und die ganze Zeit waren meine Ohren auf das Klingeln des Telefons aus.
Zu Hause saß ich in meinem Mädchenzimmer mit den geblümten Tapeten und den Impressionisten an den Wänden und versuchte, die Zeitungen zu lesen. Ich bekam nichts mit. Ich nahm meinen Block und fing an, dir einen Brief zu schreiben. Ich erzählte von Opa im Krankenhaus, vom Saisonstart im Golf Club, von der Lateinarbeit, und ich schrieb, dass der Tag grau war und ich dich vermisste. Ich hatte Angst, den Brief abzuschicken, und tat es trotzdem. Ich hatte ein so starkes Gefühl für deine Wärme, dass ich mir nicht vorstellen konnte, abgewiesen zu werden. Ich war auch ein bisschen trotzig. Ich war schließlich noch sehr jung. Würdest du mich abweisen, wüsste ich Bescheid.
Du warst in Kanada, ich musste warten, also schrieb ich gleich noch einen Brief und noch einen. Ich schrieb dir alles über Meursault und Faust, was mir einfiel. Nach vier Tagen riefst du endlich an. So viel habe ich in meinem ganzen Leben nicht mehr über Camus und Goethe geschrieben.
Er schleiche sich weiter in ihr Herz hinein, sagt er. Er habe ihre Briefe dreimal gelesen und sich riesig gefreut. Sein Assistent habe sie ihm mitgebracht.
Das nächste Mal, wenn es spät wird, bleiben Sie einfach bei mir. Dann können wir reden, solange wir wollen.
Bevor sie antworten kann, kommt jemand in sein Büro. Er muss auflegen.
Plötzlich wird ihr klar, dass er tatsächlich aus Kanada angerufen hat. Nach einer Stunde ruft er noch einmal an.
Ich bin am Dienstag leider nur ganz kurz in Frankfurt. Ich habe so lange über unser Gespräch nachgedacht und ich will so vieles wissen.
Es kommt schon wieder jemand.
Ich melde mich bald wieder, ja? Ich gehe heute Abend zum Sport, vielleicht kann ich Sie vorher erreichen?
Er legt auf.
Es war wie mit Mama im Geschäft. Wie oft, wenn ich ihr etwas erzählte, wurden wir von einem Gast unterbrochen oder von etwas, das sie tun musste. Ich sah immer zu, dass ich den Faden hielt, und sie war eine Meisterin darin. Ich hatte gelernt, mit diesen Unterbrechungen zurechtzukommen. Ich wartete. Dass ich darunter litt, begriff ich erst Jahre später. Ich horchte dem Gesprochenen nach. Manchmal blitzte so etwas Hitziges in Julius’ Worten auf, und dann wieder klang er so unglaublich einfach und freundlich. Plötzlich hatte ich das Gefühl, aus allem herauszufallen, mich von allem meilenweit zu entfernen. Ruf an, dachte ich, schick den blöden Besuch weg und ruf an! Ich muss mich konzentrieren! Ich muss morgen Abi schreiben, da kann ich hier nicht zappeln und warten! Von einem Augenblick auf den anderen befiel mich ein aberwitziger, übermächtiger, geradezu entsetzlicher Freiheitsdrang. Ich sah mein Zimmer, das Haus meiner Eltern, die Küche im Club, und ich wollte aufstehen und losrennen, fort, fort, weit fort. Ich wollte mit einem Mal nichts Gewohntes mehr
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