Der Tag ist hell, ich schreibe dir
erfahren.« Ich wurde rot; so hatte ich die Sache nie gesehen.
Bei manchen seiner Fragen musste ich überlegen. Meine Erinnerungen waren einzelne Situationen, Bilder, nicht ihre Festlegung auf Jahreszahlen oder Daten.
» Es ist schon so lange her«, sagte ich dann, und später, auf seinem Tonband, das er mir viele, viele Jahre später einmal überreichen würde, gab es Augenblicke der Stille, in denen man nur unsere alte Küchenuhr ticken hörte.
» Wissen Sie, er wollte immer wissen: Wie ist die Stimmung bei den jungen Leuten? Was liegt ihnen am Herzen? Er ging immer davon aus, dass Jüngere innovativer sind als Ältere; davon wollte er etwas mitkriegen.«
» Waren Sie denn gar nicht befangen? Ich meine, Sie trafen da auf einen doch immerhin ziemlich bekannten Mann.«
Ich zögerte. » Ich glaube, das hätte nicht funktioniert mit ihm. Ich glaube, es war gerade gut, dass ich so unbekümmert war.«
» Aber wieso? Wie konnten Sie so sein?«
Ich musste lachen. Die Frage kam mir ganz absurd vor.
» Ich weiß es nicht!« Ich kicherte, ich konnte nichts dagegen machen. » Ich war immer extrem neugierig. Ich kann Ihnen das nicht erklären, und außerdem war es doch ganz einfach mit ihm, er war so unkompliziert, und wir mochten uns, warum hätte ich also befangen sein sollen?«
Jonathan Kepler schüttelte den Kopf.
» Vielleicht«, schob ich leicht irritiert hinterher, » vielleicht kann man das gar nicht erklären. Ich meine, die Zuneigung zu jemandem, können Sie die erklären?«
» Nein«, sagte er, » nicht wirklich.« Er machte eine Pause, ich sah ihn fragend an.
» Haben Sie ihn politisch beeinflusst? Ich meine, er hatte für einen Bankier eher untypische Ideen, und ich habe damals keinen zweiten kennengelernt, der so ähnliche Dinge gedacht hat wie er, die kamen eher aus dem grünen oder linken Umfeld. Zum Beispiel den Vorstoß zum Schuldenerlass für die Dritte Welt oder sein Engagement für den Regenwald – «
Ich dachte kurz nach, drehte die Kaffeetasse in meiner Hand herum. » Natürlich habe ich ihm alles Mögliche erzählt, wie gesagt, vom Club of Rome und Ivan Illich, und von allem, was ich im Laufe meines Politikstudiums kennenlernte. Aber ich habe mich nicht so gesehen, als eine, die ihn beeinflusst. Ich hielt ihn für so außerordentlich intelligent, ich hätte mir das nie angemaßt. Aber vielleicht war es auch so. Ich glaube, ich bin überhaupt kein politischer Mensch, obwohl ich das, als ich ihn kennenlernte, noch von mir dachte. Ich habe ihm einfach immer nur zu allem meine Meinung gesagt, ihn auf Dinge aufmerksam gemacht, die mich beschäftigten. Politik, Philosophie, Literatur. Bei seiner Beerdigung hat mich seine Frau anderen Leuten so vorgestellt: Das ist Helen, Julius’ geistige Tankstelle. Die Leute haben genickt, offenbar wussten sie etwas von mir. Irgendeiner der Gäste, im Übrigen ein bekannter Industrieller, hat dann gegrinst und gesagt: Na, dann können Sie ja künftig Ihre Briefe an mich schreiben. Einige Männer am Tisch lachten blöd. So ein Idiot. So ein fieses Grinsen dabei. Ein Herrenreiter, hat mein Vater gesagt, als ich es ihm erzählte.«
Ich hatte mich nicht besonders auf diesen Interviewtermin mit Jonathan Kepler vorbereitet. Das Päckchen mit den Briefen war mir bis dahin entfallen gewesen, und in meine Tagebücher hatte ich vor unserem Treffen nicht hineingesehen. Ich beantwortete Jonathan Keplers Fragen so, wie es mir in diesem Augenblick in den Sinn kam. Durch seine Fragen wurden Gedächtniszonen angesprochen, die lange brachgelegen hatten.
» Vielleicht können Sie in Ihren alten Kalendern nachsehen, ob Sie noch etwas finden«, sagte er am Ende unseres Gesprächs. » Oder in Ihren Briefen«, fügte er hinzu und nickte zu dem Päckchen hin, das nach wie vor unberührt auf dem Tisch lag, dieser ungleichmäßige Stapel von vielleicht zwanzig Briefen, in verschieden großen Umschlägen, mit meiner Riesenschrift darauf, weiße, braune, grüne, aufgeschlitzt, von einem doppelten blauen Wollfaden zusammengehalten. » Dann können wir morgen noch einmal telefonieren.«
Die Briefe, die Briefe.
Später, als ich anfing, genauer über diese Geschichte nachzudenken, stellte ich fest, was ich alles vergessen hatte. Hatte ich Kepler gegenüber völlig selbstverständlich behauptet, dich nur selten gesehen zu haben, zwei oder dreimal im Jahr, hauptsächlich mit dir am Telefon gesprochen zu haben, von den vielen Briefen einmal ganz abgesehen, die ich dir geschrieben hatte,
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