Der Tag ist hell, ich schreibe dir
weinen.
Die Gedanken hörten nicht auf, in mir zu sprechen. Er war zweiundfünfzig Jahre alt und ich neunzehn. Er war nicht nur dynamischer als alle seine Altersgenossen, denen ich je begegnet war, er war dynamischer als überhaupt alle Menschen, die ich kannte. Ich hatte nicht eine Sekunde lang das Gefühl gehabt, ihm gegenüber sagen zu müssen, ich merke, wie jung ich bin, weil ich etwas nicht wusste. Wir hatten uns fünf Stunden lang unterhalten. Er verunsicherte mich, weil er alles so genau wissen wollte. Er verunsicherte mich, weil er mir Löcher in den Bauch fragte, weil er mich zum Erzählen brachte und gar nicht müde wurde, mir zuzuhören, und die Worte immer hin und her flogen und er mir auch so vieles erzählte und mich mit einer Welt konfrontierte, die ich nicht kannte. Aber die ganze Zeit empfand ich es als eine freudige, produktive Verunsicherung, denn es war keine im » Gefühl«! Im Gefühl strahlte er mich an. Im Gefühl lachte er wie ein Junge, der sich über mich freut. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass alles, was ich war, einfach so aus mir herausströmen durfte und vollkommen wohlwollend angenommen wurde.
Es war eine andere Art der Zuneigung als die meiner Eltern oder meines Großvaters, und anders als die meiner Freundinnen und Freunde.
Ich glaube, auf dieser Fahrt beschloss ich, anderen so wenig wie möglich von diesem Mann und mir zu erzählen. Es hätte sich angeboten, damit anzugeben, aber das wollte ich nicht. Ich wollte diese Begegnung, von der ich ja nicht wissen konnte, ob sie zu weiteren führen würde, für mich behalten, sie in mir verschließen, obwohl Kierkegaard sagt, das sicherste Verschweigen sei nicht das Schweigen, sondern das Sprechen. Das gilt vielleicht für einen Schriftsteller oder Philosophen, nicht aber für das Mädchen, das ich war. Obwohl ich mich seiner Einsicht oft bediente.
Als ich aus der S-Bahn stieg und auf dem menschenleeren Parkplatz hinter dem Bahnhof in Papas Polo kletterte und nach Hause fuhr, überfiel mich ein so tiefes Glücksgefühl, dass ich mich wie eine Rennfahrerin in die Kurven legte. Ich sang die ganze Zeit laut vor mich hin, ich weiß nicht mehr,
was,
ich weiß nur
dieses Singen
5
» Und Sie haben ihm die ganze Zeit Briefe geschrieben?«
» Ja.«
» Und er auch? Haben Sie die noch?«
» Nein! Dafür hatte er doch gar keine Zeit. Er hat angerufen.«
» Oft?«
» Na, immer wenn ein Brief kam, aber sonst auch.«
» Und wie lange ging das so?«
» Bis zu seinem Tod.«
» Also sieben, acht Jahre.«
» Es gab schon mal Unterbrechungen; als ich in Paris war, habe ich nicht geschrieben; es gab Phasen, in denen ich sehr oft schrieb, und dann war es wieder weniger. Dann hat er sich allerdings beschwert.«
» Das müssen ja Hunderte von Briefen gewesen sein! Haben Sie die noch?«
Ich zeigte auf das Päckchen auf dem Tisch. » Ich habe nur diese. Aber sicher, es waren Hunderte. Manche habe ich auch abgeschrieben, wenn ich einen Brief besonders schön fand.«
Während ich mit Jonathan Kepler sprach, blitzte tief in meinem Gedächtnis der Nachmittag in einem Pariser Programmkino auf, in dem ich Rossellinis Deutschland im Jahre Null gesehen hatte. Die Kamera fuhr langsam durch die zerstörte Stadt, Rossellini hatte den Film 1947 in Berlin gedreht; ich sah die Straßen, Fluchten von Trümmern, und die Gesichter von Kindern, die versuchten, sich irgendwie durchzubringen, und ganz plötzlich musste ich mit einer solchen Heftigkeit an dich denken, dass ich in der Dunkelheit zu weinen begann. Du warst so alt wie meine Mutter, im selben Jahr geboren, und ich hatte ein entsetzliches Mitleid mit eurer Generation, die am Ende des Zweiten Weltkriegs vierzehn, fünfzehn Jahre alt war.
Jonathan Kepler hatte sich Notizen gemacht, obwohl das Tonband lief. Ich war so vollständig in dieser Vergangenheit verschwunden, dass ich vergaß, wem ich sie da gerade erzählte. Er hatte eine geduldige Art des Zuhörens, die meine Erzähllaune beflügelte; er lachte oft, wenn er sich selbst an bestimmte Dinge aus den Achtzigerjahren erinnerte, wie die Dritte-Welt-Märkte und die ersten Talkshows im Fernsehen. Das Klima dieser Zeit interessierte ihn, when we were young, obwohl er etwa zehn Jahre älter war und sie anders erlebt haben musste als ich. Als ich einmal stockte und zögerte, so viel von mir selbst zu erzählen, sagte er: » Wenn dieser Mann jahrelang mit Ihnen befreundet gewesen ist, erfahren wir etwas über ihn, indem wir etwas von Ihnen
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