Der Tag ist hell, ich schreibe dir
sehen, schmecken, fühlen, ich wollte alles neu und anders. Ich nahm Papas Polo und fuhr durch die Stadt zu meinem alten Freund Hanno, der Ex-Steuerberater mit dem Erdbeerquark, und vielleicht war es an diesem Abend, dass er mir seinen Freund Jojo vorstellte, bei dem ich dann über Nacht blieb. Irgendwo musste meine heiße Haut ja hin.
Am nächsten Morgen schrieb ich meine Abiturklausur, als hätte ich Fieber. Ich schrieb ich weiß nicht wie viele Seiten über zwei Gedichte von Hugo von Hofmannsthal und Bertolt Brecht, Manche freilich müssen drunten sterben und Wer baute das siebentorige Theben?, und ich schrieb und schrieb und schrieb, und plötzlich dachte ich, das will ich, das soll nie aufhören, wie die Worte tanzten, wie ich die Worte liebte, in den Zeilen, wie ich neue für sie erfand, wie ich sagte, wie wunderbar sie aufeinander bezogen wären, wie sich zwischen ihnen Welten erschlossen, und ich fand noch eine Bedeutungsebene und noch eine und ich hatte das Gefühl, die Wörter und Sätze und Verse zu streicheln, ich ließ mich hineinfallen in diese Wörter, ihren Rhythmus, ihren Klang und ihre Farbe.
7
Was erzählt man einem anderen und was sich selbst? Was geschieht mit den Dingen, die man einem anderen erzählt, mit denen man nie gerechnet hätte? Wie oft habe ich mir diese Frage stellen müssen, seit Jonathan Kepler über dich und meine Briefe an dich seinen Artikel veröffentlicht hatte. Es ist ja nicht so, dass man diese Erfahrung nicht im privaten Freundeskreis machte, wie sich Erzählungen, Geheimnisse, Anekdoten verändern, wie sie einen anderen aufrütteln, verstören, freuen oder ärgern. Aber das ist etwas anderes als die Reaktion dessen, was als Öffentlichkeit bezeichnet wird, die ich bald kennenlernen sollte.
Ich hatte nach Jonathan Keplers Besuch versucht, die Seiten mit meiner krakeligen Riesenschrift möglichst schnell durchzublättern, um auf ein Datum, eine Notiz zu stoßen, die für ihn noch etwas präzisieren konnte. Ich fand das Datum unseres ersten Treffens, doch dann warf ich das Tagebuch geradezu in die Ecke; diese Zeit war weit von mir entfernt, ich wollte nichts von ihr wissen; nach oder seit den Kindern war sie noch weiter weggerutscht; ich fand sie weder reizvoll noch hatte ich einen Anlass, mich mit ihr zu befassen.
Bis zu dem Tag, an dem Jonathan Kepler zu mir kam, hatte die Geschichte mit Julius in diese Zeit gehört. Sein Tod, wie der meines Großvaters und meines Vaters, war ein Teil meines Lebens geworden, das heißt, das Leben hatte mir geholfen, mit dem Verlust zurechtzukommen. Als ich Jonathan Kepler von Julius erzählte, war es die lebendige Erinnerung, die mir vor Augen trat, und nicht der gewaltsame Tod. Diese zuversichtliche, glückliche Atmosphäre. Ich glaube, in diesem Augenblick blendete ich einfach aus, dass ich meine Geschichte einem Journalisten erzählte. Und je tiefer ich in die Geschichte hineingeriet, desto heftiger wurde mein Wunsch, diese Lebendigkeit, deine Lebendigkeit, wiederzufinden.
Es war eine Welle, die kam und Helen mitriss. Verwandte, Freunde, Bekannte, die sie jahrelang nicht gesprochen hatte, riefen an, wildfremde Menschen, die sagten, sie hätten eine » ähnliche Erfahrung« gemacht, schrieben E-Mails. Weitere Journalisten wollten ein Interview. Helen hatte Kepler ein altes Foto mitgegeben, um das er sie gebeten hatte; sie hatte es einem flachen Karton mit Abzügen entnommen, in dem sie Fotos aus der Zeit des Mauerfalls aufbewahrt hatte. » Damit ich mir Sie besser vorstellen kann«, hatte er gesagt. Nun sah das Foto sie riesengroß an; der Artikel Das Mädchen und der Banker füllte die ganze Seite, zusammen mit dem Foto der zerstörten Limousine und einem kurzen Abriss über Julius Turnsecks Ermordung durch ein Attentat.
Die Veröffentlichung löste eine Flut von Reaktionen aus. Helens Verleger rief an, die Briefe, die Briefe, rief er, ob man die nicht veröffentlichen könnte; Filmproduzenten baten um Termine, ein bekannter Regisseur schrieb ein Fax, er sei an den Filmrechten interessiert, ob sie sich treffen könnten; am Abend saß Helen mit gepudertem Gesicht vor dem schwarzen Viereck einer Kamera und beantwortete der Moderatorin einer Kultursendung, die sie auf einem Bildschirm links von sich sah, Fragen nach Julius; zu Hause wartete die Journalistin einer seriösen Tageszeitung auf sie, die Thimo am Telefon besonders sympathisch gefunden hatte, und am nächsten Tag lief Helen mit einem Kamerateam durch das kalte, verregnete
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