Der Tag ist hell, ich schreibe dir
entdeckte ich, wie viele Eintragungen in meinen Kalendern etwas anderes erzählten. Aus den zwei bis drei Malen im Jahr wurden sehr viel häufigere Treffen. Auch in meinen Tagebüchern fand ich Eintragungen, dass ich dich gesehen oder du mich besucht hattest.
Ich glaube, die Erinnerung war deshalb so bruchstückhaft, weil ich sie mit niemandem wirklich teilen konnte.
Was mich – wiederum einige Jahre entfernt davon – an der Befragung durch Jonathan Kepler im Nachhinein verblüfft, ist die Deutlichkeit und Frische, mit der mir der allererste Anfang mit dir vor Augen trat, diese optimistische Aufbruchsstimmung meines eigenen, aber auch die deines Lebens. Es lag an ihm, Jonathan Kepler, dass ich mich vor allem an das Federleichte erinnerte, das Heitere, Lebensfrohe, das dich ausgezeichnet hat, und vieles an unserer Beziehung. Ich erzählte es ihm so, wie es mir an diesem Tag einfiel. Es war nichts daran gelogen oder falsch.
Aber es war nicht alles. Ich wusste in diesem Augenblick selbst nicht einmal mehr dieses » Alles«. Ich blätterte es erst nach und nach auf. In den Tagen und Wochen und Jahren danach. Ich fand manches in meinen Tagebüchern, die zu dieser Zeit ausführlicher waren als später dann. Anderes tauchte unvermittelt auf. Es hatte sich so vieles über all diese Jahre gelegt, manches musste ich mühsam ausgraben. Hatte ich mich an etwas erinnert, tauchte es in völlig anderer Form nach einiger Zeit wieder auf. Manches Traurige zeigte seine fröhliche Seite und umgekehrt, und nicht alles davon hätte ich einem Fremden erzählt.
6
Mata Hari macht Abitur, und der Bankier fliegt nach Kanada.
Er ruft an.
Er sei ein Augenmensch und er freue sich, sie bald wiederzusehen.
Sie sei ein bisschen verliebt.
Er freue sich, aber er sei verheiratet.
Das ändere nichts. Sie müsse an seine hellgrauen Augen denken.
Und er an ihre grünen. Es sei doch das Natürlichste von der Welt, sich Freude zu machen.
Ja. So gesehen, sei sie ein regelrechtes Freudenmädchen.
Er lachte freundlich, seine Stimme umarmt sie.
Tage vergehen. Mata Hari ist aufgeladen mit unbekannten Gefühlen, schreibt ihre Abiturklausuren, eine nach der anderen, arbeitet im Restaurant der Eltern, läuft durch die Straßen der Stadt. Ich lebe aus der Vergangenheit, schreibt sie in ihr Tagebuch, aus der ich hervorgegangen bin, die Worte, die mein Mund formt, die Syntax, die mir wohlvertraut zur Verfügung steht, das Bewusstsein, das gewachsen ist. Nicht nur aus meiner eigenen Vergangenheit, sondern aus der anderer Menschen, die mich lehren, in ihren Zeilen, vom Leichten und Heiteren, vom Tiefen und Bösen, von Worten, die ausgesprochen, und von denen, die in mir darauf warten, ausgesprochen zu werden. Ich sitze vorm Spiegel, ohne zu verstehen, warum bin ich traurig? Worte, die ich neu auffüllen möchte, mit meinem Hunger nach Berührung, meinem Hunger nach unserem Gespräch, mit der Geste, den Kopf in den Nacken zu legen und zu lächeln.
Die Vergangenheit heißt die Erinnerung an seine Augen, die sie unverwandt ansehen, und seine Geste, wenn er die Ärmel des Jacketts nach oben zieht, indem er ganz kurz die Arme ausstreckt, und wie er sie dann mit den Ellbogen auf dem Tisch aufstellt, und dieses Gefühl, aufgehoben zu sein. Sie denkt darüber nach, was es bedeutet, für einen anderen zu schreiben.
Der Frühling kommt. Der Bankier fährt nach Norwegen, Finnland und England.
Er ruft sie an und sagt ihr jedes Mal, wohin er nun fährt, und sie sprechen schnell über tagespolitische Ereignisse und das, was sie gerade liest, und er sagt ihr jedes Mal, wie sehr er sie mag.
Mata Hari weiß, wann er aus Norwegenfinnlandengland zurückkommt. Sie weiß nicht, wie er ihre Briefe finden wird. Bei nüchternem Tageslicht, in den Limousinen, die ihn fahren, gelesen zwischen all den Akten, Börsenberichten, Entscheidungsvorlagen? Beim letzten Telefonat hat er gesagt, er habe Musik gehört und an sie gedacht, und er beendet das Gespräch nun wie immer, er werde anrufen, sobald er kann.
Sie geht in die Schule. Ihr Großvater kommt mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus, es geht ihm nicht gut, sie ist bedrückt. Immerhin ist er bald neunzig Jahre alt. Sie weiß nicht, ob sie Kunstgeschichte oder Politik studieren soll. Sie möchte ein Jahr nach Paris gehen, sie will Zeit gewinnen, um ihre Entscheidung zu treffen. Sie weiß nicht, ob sie fortgehen kann, wenn es dem Großvater so schlecht geht. Der Großvater nimmt ihre Hand, er sieht sie aus seinen
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