Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Berlin und zeigte die Friedrichstraße, an der sie oft die Grenze überquert hatte, und den Hinterhof in Charlottenburg, in dem sie gewohnt hatte und wo Julius Turnseck sie besucht hatte. Sie faltete den Brief aus dickem rosafarbenem Papier auseinander, den sie Julius zwei Tage nach dem Mauerfall in aller Eile geschrieben hatte, und las ihre Zeilen daraus vor, in denen sie ihn bat, sich nicht der Vereinnahmung des Ostens anzuschließen, die nach den ersten Statements der Politiker absehbar war. Weshalb sie vor dem Schöneberger Rathaus Freude schöner Götterfunken mitgesungen habe und nicht die Nationalhymne. Sie flog nach Köln, um bei Jürgen Jonke in der bekannten Mittwochabend-Talkshow zu schildern, was für ein freundlicher und weitsichtiger Mensch dieser Ausnahmebankier gewesen sei, und in der Maske bestand sie auf ihrem eigenen Lippenstift, himbeerfarben, und wollte nicht den fremden. Sie las Julius’ letztes Telegramm vor, das er ihr zum Geburtstag geschickt hatte, und die Leute applaudierten sichtlich bewegt, ganz ohne Zeichen des Aufnahmeleiters, es zu tun. Vorher hatte Helen das beeindruckende Warm-up Jonkes erlebt, der das Publikum vor der Live-Übertragung routiniert in Stimmung brachte, mit kleinen Witzen, Fragen und Geschichten; wie er ihnen sagte, wann sie klatschen und wieder aufhören sollten damit; und plötzlich hatte sie hinter den Kulissen Panik befallen, sodass sie sich innerlich an den Bildern festklammerte, die sie am Nachmittag im Museum gesehen hatte, von Edward Hopper, und sie hatte in sich hineingemurmelt, als könnte es sie irgendwie beruhigen, dass es sich bei fast allen um inszenierte Szenerien handelte, Bühnenbilder des Lebens, selbst da, wo es Landschaften waren. Wieder zu Hause angekommen, stand sie einer Wirtschaftszeitung Rede und Antwort, so gut sie eben konnte. Sie spürte, dass sie Julius verteidigte, ohne es zu müssen. Dass sie ihn, bei aller Kritik an seinem Metier und seinen Entscheidungen, als den Menschen darstellen wollte, den sie gekannt hatte. Es war im Grunde nicht nötig. Die meisten sahen ihn als integren Bankier, es war eher so, dass sie dem Geheimnis näherkommen wollten, das ihn zu einem so mächtigen Mann gemacht hatte, der dabei sein Gewissen nicht vergessen und seine Verantwortung für das Gemeinwohl ernst gemeint hatte. Die Macht vor allem faszinierte sie, wie hatte er das nur gemacht? Es ratterten Zahlen, Fakten, Entscheidungen. Was sie davon gewusst hätte. Helen nannte ihrerseits Fakten, Jahreszahlen, alles, was ihr einfiel –
inside, outside –
und brach, nach diesem ersten Schock der Öffentlichkeit, völlig zusammen. Ihr System kollabierte, unerträglich viele Gefühle jagten auf einmal durch sie hindurch und setzten sie schachmatt. Sie fühlte sich wie auf einer Achterbahn, ihr war übel, sie bekam hohes Fieber, und die ganze Zeit war es,
als stündest du bei mir im Raum, und ich begann, mit dir zu reden, ununterbrochen, es war, als würde eine Versiegelung aufbersten und das darin Verschlossene herausbrechen. Ich sah dich, wie du die Treppe heruntergesprungen kamst, als wir uns das erste Mal trafen. Ich sah dich, wie du mich in München besuchtest und meine beiden Mitbewohner sich verdrückten und mir hinterher erzählten, wie sie an der Ecke des Hauses gelauert hatten, um deine Limousine kommen und dich aussteigen zu sehen. Ich sah dich, im Hotel Kempinski in Berlin, im Hotel Vier Jahreszeiten in München, auf der Straße, im Park beim Spaziergang, ich sah mich neben dir sitzen, in deiner Limousine, und wie dein Fahrer, Herr Lippens, in seiner Hosentasche kramte, um mir etwas Geld in die Hand zu drücken, das ich von dir nicht hatte annehmen wollen. Ich sah dein Gesicht, ganz nah, deine Geste, mich zu umarmen und dann auf Armeslänge von dir wegzuschieben, um mich genauer zu betrachten, lass sehen, hast du dich verändert, gut siehst du aus. Und natürlich schwirrten die Bilder der Beerdigung hoch, die entsetzliche Lähmung dieser Tage, die ich fortdrückte, die ich nicht wollte, auf keinen Fall, weil du plötzlich wieder so lebendig für mich warst, dass ich ständig das Gefühl hatte, du würdest hinter mir im Zimmer stehen oder jeden Augenblick zur Tür hineinkommen, Lilja rufend, Lilchen, so wie du mich zuletzt immer genannt hattest, der Kosename meiner Familie für mich, Helen.
Du warst in der Öffentlichkeit zur Ikone geworden; für mich warst du Freude und Schmerz und eine Ansammlung vager, konkreter, verschwommener und
Weitere Kostenlose Bücher