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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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und d’Argenson durchzusetzen, die sich kein Quäntchen ihres Einflusses nehmen lassen wollten.
    Helen seufzte. Niemals würde sie einer Madame Pompadour das Wasser reichen; zu unbekümmert war sie und zu unüberlegt. Auch wenn es ihr manchmal schmeichelte, für ein raffiniertes Ding gehalten zu werden, auch wenn es ihr gefiel, dass die Herren Professoren sich fragten, was sie mit dem brillanten Bankier verband, auch wenn sie es schon weit gebracht hatte, mit ihrer Hilfskraftstelle am Institut seit dem zweiten Semester, auch wenn sie einen gewissen Ehrgeiz hatte, zu zeigen, was in ihr steckte – es fehlte ihr doch jener Wille, dem alle anderen Neigungen unterzuordnen sind, soll er ein Ziel erreichen. Aber es gab genug, was sie mit Madame Pompadour teilte. Sie lernte gern. Sie las gern, und sie warf sich mit Elan auf das Feld der Erforschung der menschlichen Triebe und Taten. Sie liebte das Theater wie Madame, die bei Hof ein eigenes eingerichtet hatte, zu dem nur handverlesene Gäste Zutritt fanden und bei deren Aufführungen sie selbst mitwirkte und mit ihrem wirklich schönen Gesang alle betörte, ganz besonders den König, für den sie sich die Sache ausgedacht hatte. Und, nicht zuletzt: Wie Helen schrieb die ernannte Marquise leidenschaftlich gern Briefe. Oder umgekehrt, Helen wie sie.
    Um Madame Pompadours Lippen spielte ein Lächeln.
    » Kindchen«, schien sie zu sagen, » deine Erkenntnis von Situationen ist ja sehr schön, doch du musst sie besser für dich zu nutzen wissen, und das kannst du nur, wenn du einen Plan verfolgst. Hast du denn gar keine Pläne?«
    Helen schüttelte den Kopf. » Nein«, sagte sie, » ich mache es ein bisschen wie Sir Popper, Versuch und Irrtum, angewandte Philosophie sozusagen, ich muss wohl durch Ausschlussverfahren herausfinden, wer ich bin.«
    Madame Pompadour hob leicht indigniert die Augenbrauen. Madame Pompadour dachte für Frankreich. Das hätte Helen, bei allem Engagement für das Gemeinwohl, sich niemals angemaßt. Auch wenn sie einmal die Woche auf dem Boden ihres Zimmers saß und alle Zeitungen las, die sich in den Tagen zuvor angesammelt hatten. Auch wenn sie sich empörte und Artikel ausschnitt und archivierte und aufgeregte Leserbriefe schrieb: vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der ganzen Hitlerei konnte sich eine junge Frau nicht mit einem Land, schon gar nicht mit diesem hier, in dem sie lebte, identifizieren. So ließ sich die Welt nicht mehr denken, in demokratischen Zeiten, und deshalb war es wichtig, sich mit der ganzen Welt zu befassen, was Helen durchaus tat. So studierte sie in ihrem Grundkurs Außenpolitik die Entwicklung Chinas seit 1949. Sie lernte, so wie Madame Pompadour sich mit den Kriegen in Europa befasst hatte, alles über den Vorlauf in diesem fernen Land, vom Boxeraufstand 1900 bis hin zum » Langen Marsch« 1934 und 1935, den japanisch-chinesischen Krieg und den Bürgerkrieg bis zur Gründung der Volksrepublik durch Mao Tse-Tung im Jahr 1949. Sie studierte eifrig und im Detail die Dokumente zur Bodenreform (1950–53), zur Kollektivierung (1953–57) und zur Bildung der Volkskommunen (1958), und sie lernte die » Drei Bitteren Jahre« (1960–62) kennen, als der chinesische Kommunismus seinen Kurs zugunsten des sowjetischen Bruders korrigierte und mit Hilfe der Armee, deren Grausamkeit sich jener der deutschen Wehrmacht an die Seite stellen ließ, schließlich auch durchsetzte. Sie durchwanderte Höhen und Tiefen der Kulturrevolution, Blüten der Hoffnungen und verlorene Illusionen, und verfolgte den Besuch Nixons 1972 sowie einen weiteren Kurswechsel. Sie empfahl Julius Turnseck, sich mit dem Riesen im Land der aufgehenden Sonne zu befassen, der künftig an Bedeutung nur gewinnen könne. Sie erklärte ihm, inwieweit die Vorstellungen des jahrhundertealten Kollektivwesens eine Individualität der westlichen Prägung gar nicht kennen und daher Systeme wie Kommunismus oder Kapitalismus gänzlich anders begreifen und entwickeln würden und man mit Überraschungen rechnen müsse. Und Julius Turnseck machte » aha« und hörte äußerst interessiert zu. Schließlich schrieb Helen eine Arbeit über die diplomatische Dechiffrierung von chinesischen Radiomitteilungen während des Vietnamkrieges, die sie ihrem Freund schickte und die endlich einmal seine uneingeschränkte Anerkennung fand, kein Mäkeln an mangelnder Stringenz oder logischer Durchführung.
    Madame Pompadour, die zwar den Handel mit China wichtig fand und die

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