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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Perversion, gab es doch etwas, das Helen nicht übersah: Der gesamte Lehrstuhl hing nicht nur einer Prägung des katholischen Glaubens an, die sich ausgesprochen nach der weltlichen Macht streckte und nichts, aber auch gar nichts mit dem Glauben von Helens oberschlesischem Großvater gemeinsam hatte, sondern auch einer elitären politischen Auffassung, die ein Küchenkind wie Helen als Potenzial für die Zukunft durchaus einbezog, solange man sie nachts um zwei anrufen und mit großer Wichtigkeit in der leicht übermüdeten Stimme nach der Quelle eines Zitats fragen konnte – doch nicht darüber hinaus. Bis Helen die Bedeutung und Tragweite dieser Haltung durchschaute, blätterte sie hellwach und aufgeregt in ihren Notizen, die sie tagsüber in der Staatsbibliothek gemacht hatte, und buchstabierte alles eifrig in den Hörer. Denn sie liebte ihre Spionagearbeit, sie kümmerte sich zunächst gar nicht so sehr darum, was sie las, doch schließlich konnte sie nicht umhin zu erkennen, dass es sich um mehr als dunkle Seitenpfade der späten Romantik handelte, die sich immer weiter vom aufklärerischen Aufschwung ihrer Anfänge hin zu einem gnostischen Obskurantismus entwickelte, der zu allem Unglück auch noch die Nähe der restaurativen Staatskräfte suchte.
    » Aber, liebe Helen«, bemerkte Herr Doktor Sedlitzky, als sie diese Frage an einem sonnigen Nachmittag im Biergarten ansprach, » auch Seitenpfade erhellen die Hauptwege, und viele Argumente dieser Denker wurden im zwanzigsten Jahrhundert weitergedacht. Die ganze Machtphilosophie eines Carl Schmitt gäbe es nicht ohne die intime Kenntnis der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Gnosis. Dualistische Denksysteme beherrschen uns bis heute. Oder?«
    Helen sah das äußerst kritisch, da die Dialektik ihrer Meinung nach ja eine Art Salto über die Gegensätze hin zu einer Synthese erforderte. Die Synthese und die daraus folgende neue These vermisste sie bei Herrn Dr. Sedlitzky. Zudem lernte Helen bei Herrn Professor Weißvogel in der Politischen Theorie eine andere Lesart der gnostischen Lehre kennen, nämlich die, dass diese Philosophie ein gutes, wertvolles Jenseits einem traurigen Diesseits gegenüberstellte, das von niederen Trieben und schlimmen Wirren gezeichnet war. Das Leid, in die fremd und wirr empfundene Welt hineingeworfen zu sein, schrie nach Erlösung. Das Chaos war bitter, weit entfernt von jedwedem wohlgeordneten Kosmos. Dieses Weltverständnis, etwas zugespitzt ausgedrückt, führte zu einer Verachtung der Körperlichkeit des Menschen, eine Auffassung, die Helen als lebensfeindlich empfand. Noch mehr aber empörte Helen, dass es Eingeweihte geben sollte, die sich über die Nicht-Eingeweihten erhoben, die, ähnlich wie in der Kirche, wussten, welches Verhalten gut und welches schlecht war, und die bestimmten, wer auszuschließen war und wer dabei.
    Helens Unbehagen wuchs. Glücklich, eine Stelle als Hilfskraft an einem angesehenen Lehrstuhl für Philosophie zu haben, geriet sie innerlich in tiefe Konflikte mit der Haltung, die ihr dort begegnete, die sich nicht durch das offene, vorbehaltlose Durchdenken verschiedenster Philosophien auszeichnete, sondern ganz klar Denker bevorzugte, die
    1. Gott als absolute Autorität setzten und es Metaphysik nannten,
    2. neben anderen weltlichen Dingen Frauen als geringer vermögend ansahen und
    3. glaubten, dass die Menschen von Grund auf schlecht und nur in bedingtem Maße lernfähig seien und man ihnen deshalb unbedingt zu sagen hätte, was richtig und was falsch, was moralisch und was unmoralisch sei.
    Genau an dem Punkt, da Helens Zweifel sich mit ihrer Faszination für Herrn Dr. Sedlitzky etwa auf dieselbe Höhe zubewegte und sie fast zerriss, arbeitete Julius Turnseck, der immer häufiger den Wunsch verspürte, Helen in seiner Nähe zu sehen, an seinem lang gehegten Plan, sie an die neue Universität zu locken, indem er den von ihr bewunderten Herrn Dr. Sedlitzky zum Professor dorthin berief. Dieser sollte, soweit hatte er sich mit ihm bereits ohne ihr Wissen verständigt, Helen als Assistentin mitbringen.
    Doch als er eigens anreiste und Helen zum Abendessen einlud, um ihr diese Möglichkeit in Aussicht zu stellen, rief sie nicht Hurra. Sie saß vor ihm und benahm sich seltsam. Sie sah nach unten, nach links, nach rechts. Er brachte sie in eine höchst verzwickte Lage. Gerührt von seiner Anerkennung und verlockt von der in Aussicht gestellten Aufgabe einerseits, zerfloss sie andererseits vor Scham, ihm die

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