Der Tag ist hell, ich schreibe dir
blau-weißen Fayencen von dort sehr schätzte, fand dieses Interesse an China ein wenig übertrieben, doch Helen wiederholte und betonte, mit leichtem Starrsinn oder jugendlichem Eifer, dass die Welt eben weiter gespannt sei als zu ihrer Zeit. Frankreichs Geschicke, Frankreichs Machtstellung in Europa, Frankreichs große Kultur, das war Madame Pompadours Vision, Helen aber sprach und träumte von der » Einen Welt«. Ihre private Vision hingegen, eine neue Franca Magnani zu werden, war schon nach zwei Semestern des Studiums verblasst. Je tiefer Helen in das Wesen der Politik auf dem Papier einzudringen schien, desto weiter entfernte sie sich seelisch davon. Sie fand es weitaus aufregender, sich in die Gedankenwelt von Nietzsche zu begeben, den sie hingebungsvoll las, neben Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung. Kunst als Erkenntnis oder auch Erkenntnis als Kunst war die Frage, die sie umtrieb, seit sie zum ersten Mal darauf gestoßen war. So landete sie immer wieder in einer Vorlesung über Kunstgeschichte und verbrachte viele Stunden im Lenbachhaus, dem Museum des Blauen Reiters, oder hier, bei Madame, und hätte sie auf ihr Herz gehört, hätte sie die weiterführende Beschäftigung mit den Frühlings- und Herbstperioden, dem » Mandat des Himmels« und der » Zeit der Streitenden Rechte« im alten China im dritten Semester sein gelassen und sich mit Malerei und Plastik des zwanzigsten Jahrhunderts befasst.
Als sie an diesem winterlichen Nachmittag vor Madame auf dem Bänkchen saß und der Marquise ihr Herz ausschüttete, sagte diese nur leise: » Liebes Kind, geh ein bisschen spazieren, dann verfliegt der Ärger schnell.«
14 Helen muss denken
Man glaubt die Vernunft zu beleidigen, wenn man für ihre Nebenbuhlerinnen ein Wort einlegt. Und dabei können doch nur Leidenschaften und zwar große Leidenschaften die Seele erheben zu großen Gegenständen.
Diderot, Philosophische Gedanken
Dr. Viktor Sedlitzky spannte Helen immer mehr für seine Zwecke ein. Er sah die eigentliche Bedeutung der romantischen Denker in ihrer restaurativen Spätphase und schickte sie in die Staatsbibliothek, um selten beachtete Autoren dieser zum Mystizismus neigenden Spätromantik zu lesen und zu exzerpieren. Dr. Sedlitzky hatte Helens detektivische Fähigkeiten schnell erkannt, die sie, mit ihrem Gespür für sprachliche Eigenheiten kombiniert, jeden anonymen Autor des neunzehnten Jahrhunderts ausfindig machen ließen, und genau auf solche setzte er sie an. Helen las kreuz und quer in staubigen philosophischen Zeitschriften, verglich und glich ab, bis sie irgendwo, an einer verborgenen Stelle, den vollen Namen dessen fand, der unter seine wichtigsten Artikel nur ein Kürzel gesetzt hatte. Helen zog zwar die Stirn kraus, wenn sie über die Inhalte nachdachte, von denen sie bei der Lektüre Kenntnis nahm, doch sie wollte unbedingt vorbehaltlos sein, wie Julius Turnseck es ihr geraten hatte.
Madame Pompadour, die übrigens erst seit 1745 den Titel einer Marquise trug, sah mit missbilligendem Blick, wie Helen sich von Herrn Dr. Sedlitzky um den Finger wickeln und für seine Belange heranziehen ließ und dabei die eigenen Studien zu vernachlässigen begann. Mit unnachsichtigen Worten öffnete sie Helen die Augen.
Denn Helen ließ sich immer wieder von Dr. Sedlitzky, der sie eigentlich schikanierte – sie scheuchte und forderte und kritisierte –, davon ablenken, dass er dies tat. Vor allem, wenn er sie mit seinen braunen Jettaugen auf eine bestimmte Weise ansah und wenn er sie, geschickt wie er war, lobte, wenn sie etwas für ihn fand, wofür er vermutlich einige Wochen hätte aufbringen müssen. Und Helen war stolz darauf, einem Arbeiter des Geistes, Benehmen hin oder her, dienlich zu sein, sie war schrecklich gern verschwenderisch, in allem, und es machte sie glücklich, anonyme Autoren zu finden, und ganz tief drinnen war Helen ein Küchenkind, das um Anerkennung kämpfte, auch wenn, und vielleicht gerade weil es beim Falschen war. Vielleicht war sie, ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu können, sogar fasziniert von seiner Bosheit und seinem sozialen Dünkel, weil sie darin einer Art Ablehnung begegnete, die sie bei den meckernden Herren jenseits des Silbertabletts kennengelernt hatte und die sie besiegen wollte und die ihr, quer ist der Mensch, auf verdrehte Weise, für einen Augenblick, in einer Weise anziehend schien, die es am Ende unbedingt zu überwinden galt.
Wenn auch verfangen in dieser sonderbaren
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