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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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wahren Gründe ihres Zauderns einzugestehen.
    » Sabrina könnte doch auch mitkommen«, sagte Julius Turnseck, » oder ist es wegen Anders? Vielleicht hat auch er Lust, nach Bochum zu wechseln?«
    Helen schwieg, und zum ersten Mal in ihrer Freundschaft verheimlichte sie Julius Turnseck etwas, ja, sie spielte ihm sogar etwas vor, einzig und allein, weil sie nicht wusste, wie sich selbst behelfen und um ein wenig Zeit zu gewinnen.
    Helen ließ in den Tagen danach alles stehen und liegen und verbrachte viel Zeit bei Madame. Sie rang mit sich. Ihre tiefe Ambivalenz zwang sie, wie Madame de Deffand, aber auch Diderot es so treffend bemerkt hatten, zum Denken. Das Denken fiel ihr schwer. Es strengte sie fürchterlich an. Natürlich wäre sie gern an diese neue Universität gegangen. Natürlich war sie hingerissen von Herrn Dr. Sedlitzky. Was sie jedoch überaus deutlich sah und was sie mehr als alles andere Logische und Unlogische beschäftigte, war die Tatsache, dass Julius Turnseck, der ja viel klüger und feiner als Herr Dr. Sedlitzky war, nur leider nicht alle Tage vor ihren Augen und greifbar, sie niemals wie eine Jeanne vom Fisch behandelte, sondern immer und durchweg überaus liebenswürdig und voller Respekt. Was sie von Herrn Dr. Sedlitzky keineswegs sagen konnte.
    Dieser Umstand gab ihr am allermeisten zu denken, und dieser Eindruck festigte und vertiefte sich, als Julius Turnseck ihr kurz darauf zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag nicht nur einen großen Strauß mit blauen Freesien und weißen Margeriten schickte, sondern sie wenige Tage später zum Essen in ein italienisches Restaurant in der Maximilianstraße einlud, das sie sich hatte aussuchen dürfen, das es heute nicht mehr gibt und in dem eine Mischung aus liebenswürdiger Nachlässigkeit und der Eleganz verflossener Zeiten herrschte, das » Roma«.
    Helen trug einen himbeerfarbenen Rock mit breitem Bund, ein hellgraues, ärmelloses Blüschen mit umsticktem Rand am runden Ausschnitt, ein schwarzes Häkeltuch mit Fransen und neue rote Pumps. Julius Turnseck kam im Sommeranzug aus leichter mittelblauer Wolle, mit einem weiß-blau gestreiften Hemd, dessen Kragen weiß und leicht abgerundet war und seine grauen Augen zur Geltung brachte. Wenn er lächelte, spielten kleine Fältchen um sie herum, die Helen sehr charmant fand.
    » Es scheint Ihnen gut zu gehen«, sagte Julius Turnseck, » Sie sehen entzückend aus!«
    Sie aßen italienischen Salat und hausgemachte Gnocchi mit hausgemachter Basilikum-Tomatensoße, und es war vielleicht das erste Mal, dass Helen in seiner Anwesenheit zu ihrer eigenen Verwunderung entspannt und mit Appetit zugreifen konnte. Vielleicht lag es an der Atmosphäre des Lokals und der freundlichen Bedienung, und vielleicht daran, dass sie sogar ein halbes Glas Weißwein trank. Der sizilianische Kellner, der ein wenig gebeugt ging, bediente sie, als wäre sie seine Nichte auf Besuch.
    Julius Turnseck fragte Helen wie immer nach ihren Eltern, ihren Studien und ihren Freunden, und bald waren sie in ein Gespräch vertieft, das an ihre häufigen Telefonate anschloss, sodass es Helen vorkam, als hätten sie gar keine schwierigen Entscheidungen zu treffen. Sie hielt es für klüger, das Thema Dr. Sedlitzky und einen möglichen Umzug ins Ruhrgebiet erst einmal auszusparen, und erzählte von Antje-Doreen, mit der sie einige Kurse in politischer Praxis belegte.
    » Es ist ganz seltsam«, sagte sie, » wir haben uns so schnell miteinander angefreundet, und doch hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass sie etwas vor mir verbirgt. Nicht, dass sie mir etwas verheimlichen würde, aber dass sie etwas zurückhält. Es machte mich ganz nervös. Ich kann das nicht ausstehen. Also habe ich mir ein Herz genommen und sie vor Kurzem, als wir irgendwo spazieren gingen, gefragt. Ich sagte ihr, wenn sie diese blöde Barriere nicht aufgeben würde, könnte ich nicht weiter ihre Freundin sein. Nicht so eng jedenfalls. Es war ganz schrecklich. Sie wurde erst wütend, und dann fing sie an zu weinen.«
    » Mh«, machte Julius Turnseck, nicht ahnend, wie sich das, was sie untergründig halten wollte, soeben seinen Weg an die Oberfläche suchte, und sah sie voller Mitgefühl an. » Was war denn los?«
    » Sie sagte, sie sei als junges Mädchen aus der DDR geflohen. Das wusste ich ja schon, sie hatte es im Grundkurs Politik erwähnt. Wir hatten aber nie wirklich darüber gesprochen, was es für sie bedeutet hat, weil sie es irgendwie immer abgeblockt hat. Sie hat

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