Der Tag ist hell, ich schreibe dir
und wie dankbar er ihr sei, dass sie ihn an einer Welt teilhaben lasse, die sonst weit fort sei für ihn. Ach, ach, hatte sie gemacht und abgewunken, sag das nicht, es ist mir peinlich, ich bin doch dir dankbar, dass du mich so viel von deiner –
Du musst schreiben, hatte er gesagt, und ich werde dir helfen, es unterzubringen, und sie hatte pst! gemacht und ihn gebeten, all diese Dinge warten zu lassen, sie bräuchte einfach Zeit. Sie müsse doch erst einmal etwas erleben! Und Julius hatte genickt, und später, in seinem Zimmer, in irgendeinem Augenblick hatte er in ihr Ohr gesagt, er glaube unbedingt an sie, ganz fest, und sie solle den Weg gehen, egal wie verschlungen oder gerade dieser sei, egal wie viel Zeit sie dafür brauche, denn nichts, nichts, liebste Lilja, hatte er betont, ist so wichtig wie deine innere Freiheit. Helen hätte am liebsten geweint, als sie ihn dies sagen hörte, so wie nach ihrem ersten Treffen, auf dem Heimweg in der S-Bahn, von Frankfurt, denn sie hatte das Gefühl, dass es gar nicht so einfach sein würde, diese innere Freiheit zu gewinnen. Und weil es sie so tief berührte, wie er sie Lilja nannte oder Lilchen. Nichts würde die Nähe zwischen ihnen je zerstören.
Immer wenn Helen Jahre später an diese Begegnung dachte, überlagerte sich das bläuliche Licht des nächtlichen Hotelzimmers mit dem Licht, das den Kinosaal füllt, wenn ein Schwarz-Weiß-Film gezeigt wird, und mit dem Licht, das in diesen Filmen herrschte, die in der Zeit spielten, in der Julius wie ihre Eltern ein Kind, ein Heranwachsender gewesen war, eine Zeit, die sie sich deshalb, als sie noch jung war, unsinnigerweise immer in Schwarz-Weiß vorstellte. Sie fühlte sich dann dem Jungen, dem ganz jungen Mann, der Julius einmal gewesen war, wieder ganz nah, so nah, als hätte sie ihn schon da gekannt, und nicht erst, als sie zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt war und er über fünfzig. Und als Helen schließlich über Julius schrieb, führte ihre Suchbewegung sie noch einmal genau zu dieser Lebensschicht in ihm, vielleicht weil sie damals selbst noch so jung gewesen war und ein späteres Lebensalter noch gar nicht hatte kennen können, aber auch, als entspräche genau diese Nähe ihrer beider Zuneigung, Helen und Julius, in dieser langen Winternacht.
3 Briefe nach Hause
Julius, mit dem Koffer in der Hand, steigt in Essen in den Zug, 1942, Ende August, vielleicht Anfang September. Er ist zwölf Jahre alt, zierlich, noch wie ein Kind. Die Sonne scheint, trotz des Krieges atmen die Straßen den Sommer, liegt auf der Haut eine leichte Bräune, denn trotz des Krieges spielen die Jungen Fußball auf der Straße oder gehen hinunter zu den Ruhrauen zum Schwimmen in diesen langen Ferien.
Julius hatte beim letzten Mal einen wehmütigen Blick auf den Fluss geworfen, den er mochte, den fauligen, zugleich frischen Geruch eingeatmet, den Grünspan der großen Eisenrohre am Ufer angeschaut, die auf den Abtransport warteten, und das rostige Eisen der Fördertürme im Hintergrund. Die Zechentürme, aus denen Rauch aufstieg. Er hatte seine schmalen Schultern nach hinten genommen, wie er es sein Leben lang tun würde, die Wirbelsäule aufgerichtet und sich umgedreht. Er hatte das mit der Badehose zusammengerollte Handtuch auf dem Gepäckträger seines Fahrrads befestigt und war nach Hause gefahren.
Von elf Schulen des gesamten Gaus, wie man jetzt sagte, waren drei Jungen ausgesucht worden, auf die Reichsschule in Feldafing zu gehen, und er war einer von ihnen, und es hieß, dass er nun für das Vaterland lernen würde. Die Jungen würden dort alles bekommen, was sie brauchten, sie würden neu eingekleidet, alle gleich, und so blieb es bei dem kleinen Koffer, in dem sich seine drei liebsten Bücher befanden, der runde Wecker, einige Taschentücher und Socken sowie die Strickjacke, die ihm die Großmutter gestrickt hatte. Seine Zinnsoldaten musste er zurücklassen; er hatte sie einzeln in Seidenpapier gewickelt und in einen Karton gepackt und diesen auf den Dachboden gebracht.
Auf dem Bahnsteig, zwischen vielen fremden Reisenden, sein Vater, im Sommeranzug, mit Hut, seine Großmutter, seine Mutter, seine Schwester Dorothea, die nicht wusste, ob sie froh sein sollte, zu Hause bleiben zu dürfen, oder neidisch auf Julius. Seine Mutter hatte ihr schmales weißes Kleid mit den schwarzen Punkten angezogen und trug ihre hohen Absätze. Ihr Haar lag in einer leichten Wasserwelle um das schmale Gesicht, aus dem sie ihre Traurigkeit nur
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