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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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sie bediente, und so blieb es in Helen, als sie längst studierte, obwohl es untergründig in ihr arbeitete und sich da irgendetwas zeigte, das in all diese Erwartungen nicht passte und nicht passen wollte.
    Helen, so dachte Julius in dieser Nacht, und er würde es ihr am kommenden Tag sagen, am Telefon, ohne Umschweife, als er zurück zu seinem Bett ging und sich setzte, ohne das Licht anzumachen, wollte genau das ausgraben, was nicht zusammenpasste, was Fragen aufwarf, deren allzu ernste Antworten den Erfolg verhindern könnten. Überhaupt diese Skepsis gegenüber einer fraglosen Bejahung des Erfolghabenwollens, die offenbar ihre Generation wie einen Virus in sich zu tragen schien, die seine Fraglosigkeit infrage stellte, das gesamte » System« anzunehmen, in dem er Tag für Tag agierte. Eine Skepsis womöglich, die Störungen, Zweifel und Skrupel in ihm selbst wachsen lassen würde und den Wunsch nach einem anderen Leben, das er bestenfalls mit der Natur und der Musik sich vorstellen konnte, etwas anderes fiel ihm nicht ein, es wäre ja auch absurd gewesen, eine andere Betätigung, ein anderer Beruf, denn er liebte ihn, er machte ihm Spaß, er erfüllte sein tiefes Bedürfnis, für sein Land zu wirken und zu gestalten und seinem Ehrgeiz einen guten Platz zu finden. So war er nun einmal, so würde er auch bleiben.
    Helen konnte vieles, weil sie so jung war, noch nicht sehen, auch dass sie, wie er, wie alle Menschen, bis zu einem gewissen Grad befangen war in den Geschichten ihrer Eltern, gefangen vielleicht sogar in einer Vorstellung von ihr selbst, der sie nachlief, die ihr gerade auseinanderfiel, so wenig wie sie das noch halb Verdeckte sehen konnte, was sie werden würde, was er wiederum zu sehen begann, schon seit einiger Zeit, und was er, vielleicht genau in dieser Nacht, zu lieben begann, oder es schon angefangen hatte, als er ihr zum ersten Mal begegnet war, und das er jetzt mit einer Heftigkeit liebte, die an ihm riss. Manchmal hatte sie so eine Art den Kopf zu drehen, ein wenig zur Seite gelegt, und ihn überraschend anzusehen, als wollte sie sagen: Ich weiß alles von dir, mein lieber Herr, du kannst nichts vor mir verbergen, und dann lächelte sie so verschmitzt, dass er jedes Mal lachen musste.
    Lilja, flüsterte Julius und stand wieder auf und ging zum Fenster zurück und lehnte die heiße Stirn an das kalte Glas, und er dachte an ihren sanften Mund, der ihm ohne Scheu begegnet war, weich wie alles an ihr, biegsam, leicht, antwortend eher als fragend, und er spürte, wie sehr er sich nach ihren Fragen sehnte.
    Und die Erinnerung an seinen besten Freund in der Schulzeit, Paul, aus Berlin, stieg in ihm auf, er sah den rothaarigen Jungen vor sich, mit den vielen Sommersprossen im Gesicht, der einzige, dem er sich eng angeschlossen hatte, und der, so ähnlich wie Helen, immer gesagt hatte, was ihm einfiel, der gern durch die Wälder gestreunt war und der den Kopf manchmal so schräg gelegt hatte wie sie. Und ein Lied, das er vor längerer Zeit im Konzert gehört hatte, kam in ihm auf, leise, aber deutlich, und er begann, den Anfang im Kopf mitzusummen, eine bestimmte Wiederholung, die ihm haften geblieben war, ohne Worte und in der Folge zu kompliziert, um es im Ganzen zu singen –
    Helen schwebte in dieser Nacht durch die verlassenen Straßen der Stadt. Sie fühlte sich mit allem versöhnt und federleicht und so, als könnte sie beschließen, irgendwohin auf der Welt zu gehen, einfach so und sofort, und doch trugen ihre Füße sie wie gewohnt nach Hause, in ihre kleine Wohnung hoch oben, mit dem Blick auf die Stadt. Sie sah die Prunkstraßen, erleuchtet, im hellen Schnee liegen. Sie lächelte beim Gedanken daran, wie sehr Julius sich gefreut hatte, als sie mit ihm auf das Zimmer ging, als er im Fahrstuhl ihre Hand griff und sie küsste, als er Hand in Hand mit ihr den Gang entlang gegangen war, das Zimmer aufgeschlossen und es ihr gezeigt hatte. Sie dachte an das riesengroße, weiß strahlende Badezimmer, an die flauschigen Handtücher und an den Lichtstrahl, der ins Zimmer gefallen war. Er hatte sich ihr dann nicht gewandt oder versiert gezeigt, wie sie es von einem älteren Mann erwartet hatte, sondern vorsichtig und zart und einfach.
    Helen lächelte, nein, sie lachte auf, ein glückliches Lachen, als sie daran dachte, wie er am Abend gesagt hatte, wie sehr er ihre Vorbehaltlosigkeit ihm gegenüber zu schätzen wisse, obwohl sie ihn und seine Arbeit ablehnen müsste, mit ihrer ganzen Gedankenwelt,

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