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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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weiten, funkelnden See bis zu den Alpen hin zu blicken. Abends liegt er auf seinem Bett und hört das leise Rauschen des Windes in den Tannen.
    Die Reichsschule liegt nicht nur außergewöhnlich schön; sie ist auch außergewöhnlich ausgestattet. In der Chemiebaracke an jedem einzelnen Tisch ein Mikroskop, in den Glasvitrinen ausgestopfte Tiere und Modelle von Organen; beim Werken gibt es für jeden einzelnen Schüler eine eigene Säge, Feilen, Holz; Hefte, Bücher, Stifte und Farben; ein Luxus in Zeiten des Kriegs. Im Klassenzimmer vorn an der Wand neben der Tafel große Plakate mit Köpfen, ihre Physiognomien stark übertrieben, wie Karikaturen. Hieran erkennt ihr die verschiedenen Rassen, steht in einer Zeile darüber. An der seitlichen Wand hängt eine Weltkarte, auf der Bodenschätze, landwirtschaftliche und industriell geprägte Gebiete eingezeichnet sind, und anhand derer einmal in der Woche der Verlauf des Krieges erläutert wird, den Deutschland gegen den Rest der Welt führt.
    Das Essen ist ausgezeichnet, liebe Mama, wir bekommen von allem reichlich. Montags gab es Kartoffeln mit Quark und Butter, am Dienstag Selleriesuppe, am Mittwoch Makkaroni, am Donnerstag Erbsensuppe und am Freitag, also heute, Kabeljau mit Petersilientunke. Am Sonntag gibt es Braten mit Soße. Du siehst, du musst dir keine Sorgen machen. Vom vielen Schwimmen und Laufen habe ich allerdings auch immer ganz schön Kohldampf. Sage bitte auch den Großeltern, dass es mir gut geht. Omis Jacke ziehe ich abends an, wenn es kühl wird, aber die Temperaturen sind ja noch richtig sommerlich hier!
    Viele der Lehrer sind noch jung; ihre Vorstellungen eines freien, umfassenden Lernens kommen aus der reformpädagogischen Bewegung der Zwanzigerjahre; eine sonderbare Mischung gehen diese mit den Vorgaben des Nationalsozialismus hier ein. Sie sind gehalten, ein Klima der Kameradschaft zu pflegen und die heranwachsenden Jungen ernst zu nehmen. In ihrer Freizeit können die Jungen selbst bestimmen, ob sie musizieren, lesen oder Sport treiben wollen, sie dürfen Ausflüge nach Tutzing unternehmen oder eine Limonade im Gasthof Poelt am Bahnhof trinken. Sie wissen schon selber, dass es nicht gern gesehen wird, wenn einer gar nichts tut, sie erziehen sich gegenseitig, so wie sie abends gegenseitig aufeinander aufpassen, keinen Unsinn zu machen, wenn sie in den Häusern sich selbst überlassen werden. Wird einer erwischt, wenn er etwas Unerwünschtes tut, bekommen sie eine Strafe im Kollektiv. Diese Jungen sollen später die Gesellschaft durchfluten, sie sollen überall einen Maßstab setzen; es gilt gleichzeitig, dass sie etwas Besonderes sein sollen, und die Maxime: Ich bin nichts, mein Volk ist alles.
    » Je stärker Sie die Jungen an sich binden, desto größer wird Ihr Erfolg sein.«
    Julius Goerlitz hatte die Schule von seinem Vorgänger Ernst Röhm übernommen, dessen Idee es gewesen war, eine Eliteschule nach dem Vorbild einer Kadettenanstalt kombiniert mit reformpädagogischen Ansätzen einzurichten. Er war Hitler unbequem geworden, er hatte ihm » ausgelassene Orgien mit seinem Lustknabenharem« vorgeworfen, ihn in einen Hinterhalt gelockt und getötet.
    Die Schule sollte geschlossen werden, doch Goerlitz hatte sich für sie eingesetzt. Er hatte sich an Rudolf Heß gewandt, den Leiter der Reichskanzlei, und dann Hitler persönlich vor Augen geführt, wie wichtig eine Schule sei, die eigenständig denkende junge Männer erzog, die sich später als Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Professoren, Dirigenten und in anderen gehobenen Positionen für das Land stark machen würden. Gerade die Intelligentesten galt es an die Hand zu nehmen, um sie dem jüdischen Intellektualismus und dem bolschewistischen Einfluss zu entziehen. » Wir brauchen eine Auslese- und Vorzeigeschule als Modell für das ganze Land! Die Jungen sollen aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen.«
    Die männerbündischen Strukturen der Nationalsozialisten gehen eine Verbindung mit dem ein, was als pädagogischer Eros ein dehnbarer Begriff wird. Goerlitz liebt die Jungen mehr, als es einem Lehrer zusteht. Gesten werden mehrdeutig. Er gibt bei Sportwettkämpfen, wenn sie sich aufstellen, in Reih und Glied, in Hemd und knielanger Lederhose, um ihn zu begrüßen, oft jedem einzelnen die Hand, die er bei manchem gern etwas länger festhält, um ihm ein paar aufmunternde Worte zu sagen. Er umfasst dabei mit der anderen Hand den Unterarm des Jungen. Er besucht sie in den Klassenzimmern, hört

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