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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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schwer heraushalten konnte. Julius ärgerte sich.
    » Du sollst dich doch freuen, Mama«, sagte er.
    » Ich freue mich doch.«
    Sie zog ihn an sich, strich ihm über das kurze Haar, küsste ihn. Unwillig machte er sich los. Die Ansage kam, dass der Zug in wenigen Minuten ausfahren würde, alles drängte, Julius wurde von seiner Familie umarmt, selbst einen flüchtigen Augenblick vom Vater, der ihm dann wie einem Erwachsenen die Hand drückte. Julius sprang die Stufen hinauf, eilte zum Fenster an seinem Platz, über dem im Gepäcknetz sein Koffer verstaut war, und winkte wie alle anderen, die sich aus den Fenstern beugten. Seine Mutter fing an, neben dem Zug herzulaufen, auf ihren hohen Schuhen, und er sah, wie sie lief und sich doch entfernte, ihre lebhaften Augen, das helle Haar, das sich vom Kopf hob, ganz leicht, wippend, die schwarzen Punkte auf dem weißen Kleid. Mama tat nicht immer, was sich gehörte, und Mama winkte nun wie verrückt hinter ihrem geliebten Sohn her, in der Sorge, ob sie ihn wiedersehen würde, wegen des Krieges, der jeden Tag neue Lücken in die Familien riss.
    Am ersten Wochenende, an dem Julius in der neuen Schule in Feldafing am Starnberger See ist, gehen die Jungen ins Kino. Das Wetter ist strahlend, und eigentlich wäre es verlockend, im See zu baden, doch sechzig Jungen aus drei Klassen nehmen ihre Stühle auf die Schultern und marschieren in lockerer Folge in den Nachbarort Tutzing. Dort läuft der erste deutsche Farbfilm: Frauen sind die besseren Diplomaten.
    » Ist nicht weit«, sagt einer der älteren Jungen zu Julius, als er dessen Gesicht sieht. » Eine dreiviertel Stunde vielleicht.«
    Der Weg führt sie oberhalb der Straße auf einen Pfad, der parallel zum See verläuft, ringsum Bäume, Büsche, Wiesen, und unten der weite, in der Sonne glitzernde See, begrenzt vom glänzenden Zickzack der Alpen, Julius nimmt alles auf, während er sich nach links und rechts wendet, um die anderen Jungen kennenzulernen. Es gibt verschiedene Grüppchen, die Münchner, die Fußballer, die Musiker. Die Jungen kommen aus dem Emsland, von der Ostsee, aus Ostpreußen, aus Tirol. Julius wirkt zart, hat aber gut ausgebildete Muskeln. Er hat sie beim Fußball und Radfahren trainiert und in der Handballmannschaft seiner Schule. Was er an Körperkraft nicht zur Verfügung hat, macht er durch seine Geschicklichkeit wett.
    Am Freitag hat Julius seinen ersten Brief nach Hause geschrieben, unsicher, was er erwähnen soll und was nicht. Er hat das Zimmer beschrieben, das er mit fünf anderen teilt und das in einer der neu errichteten Baracken liegt, langgestreckte Gebäude, die mit einem ordentlichen Reetdach gedeckt sind, weiß gestrichen, freundlich, modern.
    Was er nicht schreibt, mehrere davon sind noch im Bau, jeden Morgen rücken Männer in blau-weiß gestreiften Anzügen an, unsere Dachauer, sagt ein Junge, Kriegsgefangene, sagt ein anderer, und ein dritter: unsere KZ -ler. Sie kommen mit Schaufeln, Pickeln und Stößeln. Sie heben das Fundament aus und füllen es mit Zement, sie richten Wände auf, sie sägen Holz und schleppen Material. Sie sehen ausgemergelt aus und mager. Sie senken die Köpfe bei der Arbeit. Ein Mann, ihr Kapo, kommandiert sie mit lauter Stimme und Trillerpfeife herum. Eigentlich, sagt ein älterer Junge zu Julius, sollen wir sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Zwanzig bis dreißig dürre Männer, die Hosen schlottern um ihre Beine, sie müssen im Stechschritt gehen.
    Julius wäre an diesem Sonntag lieber nur in den Ort Feldafing hineingelaufen, der vielleicht zehn, fünfzehn Minuten von den Baracken entfernt an einem steil ansteigenden Hügel liegt. Das Hotel der Kaiserin Sisi und die Villen, in denen früher alle Schüler untergebracht waren und in denen jetzt nur noch wenige ältere Jahrgänge wohnen, sie heißen » Adolf-Hitler-Haus«, » Horst-Wessel-Haus«, » Villa Maffei«, » Park Villa«; sie haben Balkone und Terrassen zum Wasser hin, ihre Decken sind mit Holz verziert, in manchen Treppenhäusern gibt es Marmor. Dass die Villen früher jüdischen Familien gehörten, die nun alle fort sind, sagt keiner.
    Julius gefallen die modernen Baracken. Im Untergeschoss findet der Unterricht statt, oben sind die Zimmer, ein Aufenthaltsraum mit Flügel, und im Keller neben der Kleiderkammer gibt es einen Saal mit Waschbecken und Duschen. Alles ist neu und aufregend, kaum einer der Jungen redet von Zuhause.
    Von den Baracken aus sind es nur wenige Meter zur Liegewiese am See, auf der

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