Der Tag ist hell, ich schreibe dir
die Traurigkeit abgelagert, über das verlorene Zuhause der Kinderzeit und den Holocaust, in dieser Reihenfolge oder andersherum, ich empfand keinen Unterschied in der Wucht: Schuld und Scham, Trauer und Zorn. Schwer auszuhaltende Gefühle in dieser Gleichzeitigkeit.
Es gab einen Augenblick in dieser Woche, in dem ich glaubte, dir ganz nahe zu kommen. Etwas zu verstehen, von dir. Worte, die du zu mir gesagt hattest, veränderten ihren Sinn. Weiteten sich, nach hinten, durch viele Lebensjahre hindurch. Zum Beispiel erinnerte ich mich an den Augenblick in der Talkshow, bei der wir uns kennengelernt hatten, in dem es um die Ausländerfeindlichkeit ging und du zweimal überdeutlich gesagt hattest, eine Ausländerfeindlichkeit könne Deutschland sich nicht leisten. Oder warum du so oft gesagt hast, ich sollte Sport treiben. Sogar deine Liebe zur Musik erhielt einen anderen Hintergrund. Und dann, völlig unvorbereitet, kippte alles um:
Ich stand an der Bushaltestelle, ich wollte nach Hause fahren, ein warmer Wind wehte, wie früher in München, wenn Föhn war und Eis und Schnee schmolzen, um mich herum standen junge Amerikanerinnen mit ihrem Lehrer, die ebenfalls das Haus der Wannseekonferenz besucht hatten, in dem die sogenannte » Endlösung« beschlossen worden war, 1943, das heißt die Ermordung sämtlicher Juden in Europa, die noch nicht geflohen oder deportiert und getötet waren. Ich sah in die Kiefern, ich hörte die Mädchen reden,
und du warst weg. Weg, aus meinem Gefühl, aus meinem Vorstellungsvermögen, weg. Ich sah dich nicht mehr, ich sah mich nicht mehr,
und ich verfluchte dieses Unterfangen, von dir zu erzählen.
Seit diesem Augenblick ist es so. Ich habe dich verloren. Ich bin in einem wortlosen Raum verschollen. Nach außen nicht, da geht das Leben weiter, draußen wird es ein bisschen wärmer, ich frage meine Tochter Vokabeln ab, ich fahre einkaufen, koche, putze, ich nähe einen Vorhang fürs Bad, wir gehen spazieren.
Doch innen: ein schrecklich leerer Raum. Kein Gefühl, keine lebendige Erinnerung.
Helen
6. Februar 2009
du warst so weit weg von all dem, als wir uns kannten, von den Hitlerjungen und den Bomben, du warst froh und lustig und auf dem Höhepunkt von allem, dein Schritt war federnd, du hast gelacht, du warst leicht wie eine Feder, und deine Haut, als ich sie einmal berührte, glühte vor lauter Lebenslust.
Helen erhält den Anruf einer Frau, deren Mann dieselbe Schule wie Julius besucht hat. Sie hatte ihrem Mann geschrieben, ihn gebeten, ob sie sich unterhalten könnten, über seine Zeit dort. Sie weinte, auf dem Anrufbeantworter, sie sagte, Helens Brief habe sie am ersten Jahrestag nach seinem Tod erreicht. Sie schluchzte kurz auf, ihr Mann hätte ihr von Herzen gern geholfen, sie entschuldigte sich, nun werde sie es für ihn tun.
10. Februar 2009
Lieber Julius,
ich habe mit Frau G. ein längeres Gespräch geführt. Ihr Mann, Herr G., sagte sie, habe sich immer so gern an seine Zeit in der Schule in Feldafing erinnert. Er sei als einer der ersten Jahrgänge dort gewesen, noch vor dem Krieg, 1936. Der Krieg habe den Alltag in der Schule sicher sehr verändert. Er habe sich nie dafür geschämt, dort gewesen zu sein; er hat die Villen gezeichnet, in denen die Schule untergebracht war, er war ein Offizier, im Krieg, er kam aus einer Familie von Offizieren (wie deine Mutter ja auch), und später wurde er Illustrator und Zeichner, und er hat sich, zehn Jahre vor seinem Tod, dort in Feldafing auf dem Friedhof ein Grab gekauft, und er liegt dort nun, und seine Frau hat ihm an seinem ersten Todestag Rosen auf das Grab gelegt, achtzig rote Rosen.
Alles, was ich gelesen habe, liegt nun über Kreuz mit allem in der Stimme seiner Witwe, die sich jeden Tag nach ihm sehnt. Ich sehe ein ganzes Leben, in das ich eindringe, wegen dir, und dieses ganze Leben und noch einige andere, von denen Frau G. mir erzählt hat, Männer, die wie du Schüler waren auf der Reichsschule in Feldafing, die viel älter geworden sind, die nicht von einer Bombe aus dem Leben gerissen wurden, die sich treffen und schöne Ausflüge machen, überall in diesem Land, am Bodensee, in Berlin, in der Lüneburger Heide, die zusammen älter werden und sich mit jedem Jahr, das vergeht, besser und lieber an diese Jahre ihrer Jugend erinnern.
Frau G. nennt Helen die Namen und Adressen einiger Freunde ihres Mannes. Sie sagt, sie könne sich auf sie beziehen, ihr Name wirkt wie ein Sesam-öffne-Dich. Nur einer, Luis A., der
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