Der Tag ist hell, ich schreibe dir
der Einfahrt ein dreistöckiger Zweckbau, aus den Fünfzigerjahren, das Gelände ist von einem Zaun und Bäumen weitgehend vor fremden Blicken abgeschirmt. Es gehört zur Bundeswehr. Helen entdeckt eine der Baracken, deren Abbildung sie in einem Buch gesehen hat, die Baracken, in denen Julius gewohnt hat.
Zum Wasser hin steht ein weitläufiger Drahtzaun. Herr B. und Helen finden einen seitlichen Waldweg, den sie hinunterlaufen, schließlich stehen sie an einer großen Wiese, dann unten am Kieselstrand, ein Steg führt in den blaugrau schimmernden See hinein, braun gestrichene Bootshäuser daneben. Die Sonne steht noch halb hinter den schnell ziehenden Wolken, einige Stellen leuchten auf; das Wasser und am Horizont die Zeile der Alpen wirken zusammen wie ein ausgewaschenes Aquarell. Helen atmet auf. Die Luft ist mild. Sie macht ein paar Aufnahmen. Die Landschaft hat eine überraschende, wohltuende Weite, und sie kann sich vorstellen, wie der Frühling hier Einzug hält und wie verlockend es im Sommer für die Jungen gewesen sein muss, hier baden zu gehen.
» Außer den Jungen von der Schule und den Leuten aus Feldafing wird hier nicht viel los gewesen sein«, sagt sie, halb zu sich selbst, halb zu Herrn B. Ein paar Schritte weiter gibt es ein Restaurant, das » Forsthaus am See«. Herr B. und Helen werfen einen Blick auf den verlassenen Parkplatz und wandern wieder zur Straße hoch. Sie wollen das Gelände der ehemaligen Reichsschule genauer ansehen. Auf einem Schild am Eingang steht » Führungs- und Unterstützungsausbildung«. Als sie sich der Schranke nähern, die man passieren muss, um auf das Gelände zu gelangen, kommt ihnen ein junger Soldat in Tarnuniform entgegen.
» Sie dürfen hier nicht rein«, sagt er, in der Hand eine Packung Zigaretten. » Oder haben Sie eine Anmeldung?«
» Nein«, sagt Herr B., » hätten wir denn eine gebraucht?«
Die beiden Männer diskutieren, während Helen versucht, an dem jungen Mann im militärischen Tarnanzug vorbei einen Blick auf das lang gestreckte weiße Gebäude zwanzig Meter hinter ihm zu werfen. Er schiebt sie, ohne sie zu berühren, zurück.
» Was ist denn hier genau?«, fragt Helen ihn.
» Wir dürfen keine Auskunft erteilen«, knurrt er.
» Wissen Sie etwas über die Reichsschule, die hier mal war?«, fragt sie weiter. Er zieht die Brauen zusammen.
» Ich darf keine Auskunft erteilen – also hören Sie, warum erkundigen Sie sich nicht im Internet und melden sich fürs nächste Mal an?«
Am Bahnhof landen sie auf der Seite der Gleise, auf der das Bahnhofshäuschen nicht ist. Helen will sehen, wo Julius angekommen ist. Sie läuft durch die Unterführung auf die andere Seite. Ein ramponiertes, hellrotes Backsteingebäude. Eine Tür ist mit Brettern vernagelt, an einem Fenster klebt ein Zettel mit bunten Luftballons, die Ankündigung für eine Kinderspielgruppe. Helen versucht sich die Stimmung vorzustellen, im September 1942, als Julius zum ersten Mal hier ankam und mit anderen Jungen zusammen abgeholt wurde. Es ist nicht leicht, der Winterhimmel, unter dem Helen steht, ist verhangen, an manchen Stellen leuchtet ein dumpfes Orange, das Licht hat eine spröde Schönheit.
Im Gasthaus Poelt war unser Kino, wird ein paar Wochen später einer der alten Herren sagen, die Helen nach ihrer Schulzeit in Feldafing fragt. Sie weiß es nicht, als sie mit Herrn B. dort sitzt; sie denkt sich nur, dass es das Gasthaus mit den alten Holzdielen und dem Kachelofen, das sie hinter dem Bahnhof entdecken, damals schon gegeben hat. Sie fragt sich, ob die Jungen so viel Taschengeld besessen haben, dass sie hier hin und wieder eine Limonade trinken konnten. Ob Julius hier gesessen hat, und was es für ihn bedeutete. Ob überhaupt irgendetwas. Herr B. und sie haben das Gleiche bestellt, Schweinebraten mit Sauerkraut, das Kraut ist schön durchgesuppt, und am Ende muss Herr B. ein Bierchen zischen, wegen dem Durst, aber nur ein kleines, schauen Sie nicht so streng, ich weiß ja, dass ich noch Auto fahren muss, ich habe eine kostbare Fracht. Herr B. hat ein Zittern der Hände, seit er ein Kind ist. Seit den Bombennächten in München, sagt er.
In Tutzing liegen Schneereste an den Straßenrändern. Helen würde gern zuerst einen Kaffee trinken, aber dieses Mal drängt Herr B. los, los, meine Dame, bald wird es dunkel, und dann semma nix mehr!
Brav geht Helen neben ihrem Begleiter hinunter zum See, auf die Brahms-Promenade. Dein Lieblingskomponist hat hier einen Sommer lang gewohnt
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