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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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mit Julius in einem Jahrgang war, möchte Helen keine Auskünfte geben; es ist der, mit dem Julius nach Hause fahren durfte, nach Tirol, in den Sommerferien 1943. Er möchte, schreibt seine Frau, » seine Privatsphäre« gesichert wissen. Ein anderer, Herr K., der mit Julius enger befreundet war, lebt nicht mehr. » Aus seinem Jahrgang kannte ich drei«, sagt Herr S., der später Arzt geworden ist, » zwei davon dement, einer fiel in Stalingrad.« Er berichtet Helen von den Auswahlverfahren der Schule, von ihrem elitären Touch, auch wenn die Jungen aus allen Gesellschaftsschichten kamen. » Ich war der nordisch-ostische Floh, klein, wendig und schlank, aber wir hatten auch gen-arische Typen, blauäugig und blond. Wissen Sie, da waren Typen dabei, die Sie als Frau sicher interessiert hätten.«
    Er wiehert; Helen wird übel.
    Sie telefoniert, sehr lange. Mit Max M., der Reisekaufmann geworden ist, wie sein Vater es ihm empfohlen hatte. Mit Friedrich Z., einem pensionierten Geschichtslehrer, der ihr mehrere Feldafing-Hefte schickt, eine Erinnerungszeitschrift, die die ehemaligen Schüler der Reichsschule zusammengestellt haben, mit Fotos und Anekdoten. Herr Z., sagt, er habe angefangen, diese Zeit zu dokumentieren, weil er in seinen Schulklassen immer wieder darauf gestoßen wurde. Die Männer erzählen Helen, was sie später im Leben gemacht haben. » Aus fast allen von uns ist später was geworden.« Julius Turnseck ist allen ein Begriff, doch der hätte nie Zeit gehabt, zu ihren Treffen zu kommen. Herr M. hat einen Ausbruch und redet über seinen Pessimismus, seine Zukunftsangst, dann lacht er bitter, wie schrecklich es wäre, jetzt jung zu sein.
    Helen stellt Fragen nach dem Tagesablauf, nach dem Aussehen der Schulräume, dem Wetter, nach Liedern, so konkret wie möglich will sie es wissen, etwas vom resümierenden Schutt fortschieben, der sich in all den Jahren darüber gelegt hat, vermischt mit Fernsehsendungen und Lektüren. Helen macht sich Notizen, gleicht mit dem ab, was sie auf Fotografien sieht, in Dokumenten liest. Die Männer benutzen Worte wie pfundig, kerlig, prima. Er habe keinem Juden was getan, sagt Herr S..
    » Vor zehn Jahren«, sagt Herr Z., » haben die Leute, die uns befragt haben, unbedingt negative Antworten erwartet. Habe ich gesagt, es sei eine schöne Zeit gewesen, bin ich sofort als ewig Gestriger abgehakt worden.«
    Immer wieder der Satz » unsere Schule war eine ganz normale Schule« und » es gab keinerlei ideologische Prägung«. Immer wieder die Verteidigung der Kindheit gegen die Politik.
    Auf ihre Frage, wie es habe sein können, dass die Jungen an dem Tag in die Oper gegangen sind, an dem Sophie Scholl verhaftet worden sei, sagt Herr Z.: » Wenn Sie in einer Stadt mit ein paar Millionen Einwohnern ein paar Hundert Flugblätter verteilen, können Sie sich vorstellen, dass man das nicht überall mitkriegt.« Es seien dreitausend Flugblätter gewesen, erwidert Helen, und es habe eine Notiz in der Zeitung gegeben, am 23. Februar 1943.
    Herr S., der Arzt, sagt über die Zeit am Ende des Kriegs: » Wir haben doch gewollt, dass Deutschland gut wegkommt. Dass der Amerikaner sieht, dass der wahre Feind im Osten sitzt, was der Amerikaner ja später auch begriffen hat, im Kalten Krieg.«
    All diese Leben legen sich wie eine dicke Schicht zwischen dich und mich, und zwischen mich und mein jetziges Leben. Ich ersticke. Ich will da wieder raus.
    Helen fragt Max M. nach den Flakeinsätzen der Jungen. Er hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis für die militärischen Details. Helen fragt ihn nach der Oper. Sie kann es immer noch nicht fassen, dass die Jungen mitten im Krieg in die Oper gingen. » Ich war kulturell niemals so besonders interessiert wie die früheren Jahrgänge in Feldafing«, sagt Herr M., » aber mein Vater hatte auch ein Abonnement, der hat mich nicht selten mitgenommen.«
    » Erinnern Sie sich an Elly Ney?«
    » Jo, freili, die Elly Ney.«
    » Woran erinnern Sie sich?«
    » Ja, mei, so genau erinner i mi net.«
    Der Zeitzeuge ist der Feind des Historikers, liest Helen irgendwo.
    24. Februar 2009
    Lieber Julius,
    bis vor Kurzem sahst du mir über die Schulter beim Schreiben, ich hörte deine Stimme, ich erinnerte mich an tausend kleine Begebenheiten, und jetzt, jetzt ist es so, als hätte die Erinnerung sich sattgegessen und genug und will nicht mehr davon erzählen, und zugleich klafft da die Wunde, die verheilt war und die ich selbst wieder aufgerissen habe, seit Jonathan Kepler

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