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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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und Noten geschrieben, denkt sie, 1873, drei Streichquartette, ein paar Lieder und die Haydn-Variationen hat er komponiert, ich habe es extra noch einmal nachgelesen, er hat dabei seine motivisch-thematische Arbeit verfeinert, die harmonischen Verwandtschaften erweitert, deshalb bin ich hier, und weil ich dich suche, unsere harmonischen Verwandtschaften, als könnte ich etwas von dir besser begreifen, wenn ich dir an deine Orte folge, und dann sieht Helen sich von außen, wie sie gerade mit dem Herrn B. und seinem kleinen roten Auto über die Landstraße gejuckelt ist, vom Hotel Sisi nach Dudsing, wie ihr Begleiter sagt, Dud-Sing, das immer chinesischer klingt, und plötzlich bleibt Helen stehen und fängt an zu lachen, sie lacht, jo, wos is?, fragt Herr B., und Helen lacht und lacht und hält sich die Rippen, und sie weiß, dass sie am liebsten heulen würde, dass sie hier nicht mit Julius spazieren geht und über Brahms redet, sondern mit dem netten, und doch fremden Herrn B., der merkt, dass sie jetzt geschüttelt wird, und nur leise sagt: Basst scho, Fräuleinchen, basst scho, und ihr ein Taschentuch reicht.
    Die Sonne hat sich mit ihren wenigen Flecken fast schon wieder verzogen, es ist drei Uhr am Nachmittag, die Wolken sind rosig angehaucht, und die Alpen scheinen näher gerückt zu sein als vorhin. Knorrige Bäume leuchten schwarz, und Herr B. möchte unbedingt ein Foto von Helen am Denkmal für Brahms machen.
    Helen stellt sich neben den mannshohen Stein, und später, zu Hause, ist ein heller Schwaden mit auf dem Bild, der sich wie ein dicker Nebelbusch vor ihr erhebt. Helen schickt das Foto an Herrn B. und schreibt dazu: Sie sehen hier Brahms’ Geist, direkt neben – Ihrer Helen.
    7 Briefe an einen toten Bankier
    2. Februar 2009
    Lieber Julius,
    ich habe eine Woche im Haus der Wannseekonferenz verbracht, in der Bibliothek, zwischen siebenunddreißigtausend Büchern, die sich mit dem Holocaust befassen, den Strukturen des Nationalsozialismus, der Musik im Dritten Reich, der Kunst im Dritten Reich, der Verfolgung der Juden in ganz Europa, den Konzentrationslagern, den Folgen für weitere Generationen, den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Man findet hier alles, Zeichnungen von Kindern aus Theresienstadt, die gemalte Biografie von Charlotte Salomon, Studien und Fotografien über das » Kraft durch Freude«-Projekt » Prora« auf Rügen, über Displaced Persons. Ich habe mich dem Regal gewidmet, in dem die Bücher über die Hitler-Jugend stehen, die Mädchen und Jungen, die im Dritten Reich Kinder und Jugendliche waren. Jungen in Lederhosen und den sogenannten » Braunhemden«, die auf den Schwarz-Weiß-Fotos niemals braun sind, sondern dunkelgrau, Jungen mit kurz geschorenen Haaren, die auf Schulbänken sitzen, die lachend Sport treiben, die zum Appell antreten, die Panzerfäuste werfen, die mit aufgerissenen Augen etwas sehen, das ich als Betrachterin nicht sehen kann. Ich kenne diese Bilder gut, ich habe sie mir immer wieder angesehen, seit ich begonnen habe, nach der Kindheit und Jugend meiner Eltern zu fragen. Ich habe sie mir angesehen, als ich über diese Zeit nachdachte, in der sie groß geworden sind, und über das, was ich in ihrem Leben davon zu spüren glaubte.
    Dieses Mal ist es anders; dieses Mal suche ich dich. Ich will von deinem Leben etwas verstehen, und deshalb habe ich mich mit Büchern befasst, in denen es um die Eliteschulen der Nationalsozialisten ging. Ich habe sie durchgeblättert und die Fotografien betrachtet und die Erinnerungen gelesen. Am zweiten Tag überfiel mich beim Lesen eine große Müdigkeit; ich musste mich zur Konzentration zwingen, auch am dritten Tag. Eine Atmosphäre wehte mich an, die mir vertraut war und die ich vergessen hatte, eine Stimmung, wie ich sie als junges Mädchen oft empfunden habe, und später dann während des Studiums. Ich nannte diese Stimmung: die Unterseite. Ich habe die Unterseite des Lebens meiner Eltern so erlebt, verdeckt von ihrem » normalen« Leben, verdeckt von der Zeit, die immer weiter vorangeht, von der Arbeit, der Liebe, den Sorgen des Alltags. Auf dieser Unterseite hatten sich alle ihre Erlebnisse des Krieges abgelagert, die eigene Flucht (bei meiner Mutter), die Zeit als Soldat (bei meinem Vater, als Junge), ihre Schuld- und Schamgefühle, als sie begriffen, dass sie zu dem Volk gehörten, das ihnen als ein besonderes verkauft worden war und das sechs Millionen Menschen systematisch umgebracht hatte. Auf dieser Unterseite hatte sich

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