Der Tag ist hell, ich schreibe dir
ist alles knapp geworden, die Rationen Fleisch auf den Lebensmittelmarken sind nicht groß, und doch ist es schwierig sie zu liefern. Ich fahre jetzt manchmal mit dem Rad und dem Rucksack zu den Bauern, um etwas einzutauschen. Omi geht es gut, sie lässt dich grüßen, sie strickt ein paar neue Socken für dich, weil du ja so gewachsen bist. Ich schicke dir eine Lebensmittelkarte, vielleicht kannst du in Feldafing ins Café gehen und ein Stück Kuchen dafür bekommen.
Mein lieber Junge, lerne du recht fleißig und schicke mir hin und wieder ein paar Zeilen,
deine dich liebende Mutter.
Die letzte Zeile ist deutlich verwischt. Mama hat geweint, denkt Julius. Warum erzählt sie so wenig vom Vater? Julius weiß nicht, ob er sich schämen soll, dass der Vater nicht an der Front ist, oder froh sein soll, dass er wegen seiner Tätigkeit zu Hause als unabkömmlich eingestuft worden ist.
Wir müssen siegen –
Mit Beklemmung verfolgen die Jungen die Frontverläufe auf ihrer Weltkarte im Klassenraum. Drill wechselt mit Freiheit; auch Lehrer werden wochenweise eingezogen, die Jungen verbringen mehr freie Stunden als zuvor ohne Aufsicht. Wenn die Lehrer zurückkommen, sind sie gereizt. Der Mathematiklehrer wirft harte Bälle nach den Jungen, die nicht hundertprozentig bei der Sache sind. Immer wieder zerrt er einen aus der Bank und schlägt mit dem Stock zu, » weil er die Gleichung nicht verstehen will!« Julius beobachtet alles, hin- und hergerissen zwischen kindlicher Verzweiflung und pubertärer Auflehnung. Er kann nicht fassen, dass ein Lehrer die Nerven verliert.
Insgeheim beginnt er sich zu fragen, ob Hitlers strategisches Denken fehlerhaft sein könnte, und beginnt, sich mit Feldzügen von Alexander dem Großen zu beschäftigen. Er studiert Weltkarten, Zahlen, Fakten.
Karten, Kompass, Kriegsspiele.
Eine ganz normale Schulzeit, werden die Schüler später als Erwachsene sagen. Wenn du im Krieg groß wirst, ist der Krieg der Normalzustand. Prima, kolossal, vorbildlich, schneidig, keck und kühn. Ein strammer Nordwind, mindere Typen, Truppführer und Sportskanone. Wenn einer sich drückt, kommt er unter die kalte Dusche. Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Worte, die sie umgeben. Worte, die in ihren Köpfen ein Eigenleben führen.
Es war eine ganz normale Schule, wirst auch du sagen, in einem Interview im Fernsehen, kurz vor deinem Tod, wir waren ganz normale Jungen. Da gab es keine Ideologie. Es gab sehr viel Sport, und was ich mitgenommen habe von dort, sind die preußischen Tugenden. Dagegen wird man doch wohl nichts einwenden können, oder?
Die Ratlosigkeit von uns Nachgeborenen gegenüber der Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Und ich? Habe ich vergessen, dass du dich in der Rüstungsindustrie engagiert hast? Habe ich es damals ausgeblendet? Nein. Ja. Es war die schwierige Gleichzeitigkeit deiner Tätigkeit und deiner Zuneigung. Sie wurde schwierig, auch für dich.
Das Schwimmen, die Freunde, die Berge.
Zugehörigkeit, Zuständigkeit, Verantwortung.
6 Brahms
Als Helen nach Feldafing fährt, im Januar 2009, um sich das Gelände von Julius’ ehemaliger Schule anzusehen, wird sie von einem Bekannten begleitet, einem älteren Herrn, dessen Vater im Konzentrationslager Dachau an einer Lungenentzündung gestorben war, ein Bibliothekar, ein Kommunist. Herr B. hatte sich den Spaß gemacht, Helen am Flughafen mit einer alten Zeitung vor der Nase zu erwarten, auf der in Großbuchstaben stand » FÜHRERS GEBURTSTAG – WIR GRATULIEREN «.
Sie kurven durch das verlassene Feldafing, vorbei am Hotel Kaiserin Elisabeth, benannt zu Ehren der » lieben Sisi«. Im Winter ist hier nichts los, sagt Herr B., und dann nimmt er die wenigen Straßen mit den imposanten Villen der Jahrhundertwende viel zu schnell. Helen bittet ihn anzuhalten. Villen, mit den Sahnehäubchen der historistischen Architektur, am Hügel über dem Starnberger See gebaut, mit dem Blick auf das Wasser und die Alpen. In den Dreißigerjahren wechselten sie ihre Besitzer, » rechtmäßig«, versichert einer, der die Schule besucht hat, als Helen ihn interviewt, » natürlich, gegen Reichsmark« – nur dass die Empfänger, Juden, nicht an ihre Konten durften, nur dass man sie deportierte.
Sie stehen vor dem Eingang eines größeren Geländes, etwa zwei Kilometer außerhalb von Feldafing, vom See vielleicht hundert Meter entfernt, von ihm getrennt durch ein Wäldchen mit Tannen und die Straße, die nach Tutzing weiterführt. Rechts von
Weitere Kostenlose Bücher