Der Tag mit Tiger - Roman
Tiger«, maunzte Nina freudig.
Die beiden gingen auf einander zu und blieben Nase an Nase stehen, um sich anzupusten.
»Na, einen schönen Rundgang gehabt?«
»Was kann schon schön daran sein! Das einzig Schöne ist, dich hier zu treffen.«
»Schmeichler, Tiger.« Nina richtete geziert den Schwanz auf. Dann fiel ihr Blick auf Anne, und ihre goldenen Augen verengten sich. Mit leicht indigniertem Ton forderte sie dann: »Möchtest du mich nicht vorstellen?«
»Vorstellen? Ach ja, das ist … äh, das ist, mh ja … Anne. Zu Besuch, weißt schon.«
»So.« Misstrauen blitzte in Ninas Augen auf.
Anne hatte sich erhoben und begrüßte sie freundlich. »Einen schönen guten Morgen, Nina. Ich freue mich, dich kennenzulernen.«
»Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit.«
Verblüfft von soviel Ehrlichkeit entfuhr Anne: »Nanu, was habe ich dir denn getan?«
»Du hast viel zu spitze Ohren, um sympathisch zu sein.«
»Oh.«
Anne fehlten die Worte zu einer Erwiderung, und Nina schaute nach dieser Beleidigung desinteressiert ins Weite.
»Nina, wollen wir gemeinsam auf die Jagd gehen? Ich glaube, ich habe vorhin ein vielversprechendes Mäusenest gefunden«, mischte sich Tiger diplomatisch ein.
»Ach, geh du nur mit deiner neuen Freundin jagen, dabei störe ich nur. Drei Katzen sind schließlich schon ein Rudel«, beschied ihn Nina und wandte sich zum Gehen.
»Da kann man wohl nichts machen.«
»Rassekatzen sind wohl immer ein wenig neurotisch«, spöttelte Anne, von der Abfuhr beleidigt.
»Jetzt langt es aber!«, fauchte Tiger. »Du gibst einer guteFreundin das Gefühl überflüssig zu sein, und dann erzählst du noch was von neurotisch.«
Langsam wurde Anne wütend. Erst die Nichtbeachtung durch Jakob, anschließend die schnippischen Bemerkungen von Nina, und jetzt beschuldigte Tiger sie auch noch völlig zu Unrecht, dieses verzogene Rasse-Schlappohr beleidigt zu haben. Sie drehte sich zu ihm um, sah ihm in die Augen, machte einen Buckel und fühlte, wie sich der Schwanz aufplusterte.
»Das nimmst du sofort zurück.«
Ganz unerwartet wurde dieser Satz zu einem scharfen Fauchen. Erschrocken über die Heftigkeit ihrer Reaktion fuhr Tiger zusammen, doch seine Angst verwandelte sich in Blitzesschnelle in schäumende Wut. Er legte die Ohren an und plusterte sich auf. Beide standen sich plötzlich fauchend und spuckend gegenüber und führten eine Diskussion ohne Worte.
Tiger hob als erster die Pfote, um einen Tatzenschlag anzusetzen, aber Anne wich ihm aus. Als er weiter auf sie zukam, setzte sie sich auf die Hinterbeine und richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf. Ein tiefes Brummen aus ihrer Kehle versetzte sie und Tiger gleichermaßen in Erstaunen.
Er war offensichtlich beeindruckt und machte fauchend einen kleinen Schritt rückwärts.
Doch in diesem Augenblick gewann Annes Vernunft wieder die Oberhand. Sie ließ sich auf alle viere nieder und sagte, immer noch wachsam: »Hören wir auf, Tiger, das hat doch keinen Sinn.«
Auch Tigers Wut verrauchte rasch, aber er war weiterhin mürrisch.
»Lass mich in Ruhe«, sagte er, drehte sich um und stiefelte steifbeinig davon.
Jagd
Anne blieb einen Augenblick sitzen und dachte über das Geschehen nach. Der Jähzorn und die wilde Kampfeslust, die sie soeben überkommen hatten, verblüfften sie. Ihre Erfahrungen, was das Kämpfen anging, bezog sie bislang aus den eher ritualisierten Kämpfen des Karate, eine Sportart, die sie seit einigen Jahren mit Begeisterung und Erfolg betrieb. Die erste Regel, die man ihr dabei eingebläut hatte, lautete, einen Kampf immer mit kühlem Kopf anzugehen. Sie hatte geglaubt, inzwischen damit ihre Gefühle im Griff zu haben, vor allem, wenn der Gegner eigentlich ein Bekannter oder Trainingspartner war. Der emotionale Ausbruch eben war ein Anlass, über ihre zukünftigen Reaktionen nachzudenken. Sie beschloss, sich soweit wie möglich aus allem Ärger herauszuhalten, denn ein Blick auf die Krallen sagte ihr, dass ein Hieb damit recht schmerzhaft werden würde. Zumal sie ihre eigene Kraft noch immer nicht richtig einschätzen konnte und daher nicht wusste, wie schnell sie mit ihren kätzisch unerfahrenen Techniken die Unterlegene sein würde.
Während dieser Betrachtungen hatte sie das gesträubte Fell wieder einigermaßen in Richtung gebürstet und überlegte nun, was sie unternehmen sollte.
Tiger war im Gebüsch verschwunden, und sie fühlte sich ein wenig verlassen. Also befand sie es für richtig, ihre Kenntnisse im Fährtensuchen
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