Der Tag mit Tiger - Roman
einzusetzen und ihm nachzuschleichen.
Forschend sog sie den Atem ein, um seine Witterung aufzunehmen. Aus der Luft kam nur ein ganz schwacher, verwehter Hauch von Tiger, der ihr keine Hilfe war. Also konzentrierte sie sich auf die Geräusche und lauschte intensiv nach allen Richtungen. Sicher, da waren einige Tiere unterwegs,natürlich auch einige Katzen, aber nichts Spezifisches, das auf Tiger schließen ließ.
Sie überlegte.
Dort, wo Tiger vorhin gesessen hatte, war sein Geruch noch am intensivsten. Sie beschnüffelte seinen Ruheplatz. Vielleicht war es möglich, seine Spuren am Boden zu verfolgen. Wie sich zeigte, setzte sich der Geruch in der Richtung fort, in die er verschwunden war. »Schweißpfoten«, kicherte Anne für sich. Schnuppernd machte sie sich auf den Weg, vorsichtig und leise Pfote vor Pfote setzend, um möglichst unbemerkt zu bleiben. Die Spur führte unter stacheligen Brombeerranken hindurch zum Bachlauf. Hin und wieder blieb Anne stehen, um einen Blick über die Gegend schweifen zu lassen. Das war an dieser Stelle möglich, denn sie befand sich immer noch auf etwas erhöhtem Terrain mit niedrigem Grasbewuchs. Tiger war aber nicht zu sehen. Dagegen hörte sie auf dem Weg einige Schulkinder lärmend zur Dorfmitte eilen, um sich an der Bushaltestelle zu versammeln. Von ihnen drohte ihr aber keine Gefahr, entdeckt zu werden. Sie nahm die Verfolgung wieder auf.
Es war gar nicht so schwierig, den Spuren zu folgen, und langsam bildete sich auch aus den anderen Geruchspfaden ein Muster heraus, wer wann welche Route im Revier genommen hatte. Sie erkannte Jakobs kreuzende Fährte, die von zwei gemeinsam patrouillierenden unbekannten Katzen, einen hündischen Abstecher ins Gebüsch, der stark riechend endete, und Wege von bislang unbekannten Tieren, vielleicht Kaninchen.
Aber da sie sich auf Tigers »Schweißpfoten« konzentriert hatte, konnte sie ihm zielgerichtet folgen. An einem kleinen Baum wurde sein Geruch sogar richtig stark, hier hatte er wohl sein Mäulchen gerieben. An einem Zaunpfahl fand sie seinedeutliche Gebietsmarkierung und wurde an »unser Auto« erinnert.
Ihr Zorn auf Tiger war schon lange verflogen, und sie dachte mit Zuneigung daran, wie viel Mühe er sich gegeben hatte, sie mit den kätzischen Formen des Daseins vertraut zu machen.
Vermutlich war sie schon ganz in seiner Nähe, und so schlich sie noch ein wenig lautloser und vorsichtiger durch das höher werdende Gras.
Richtig, da vorne saß er, geduckt und völlig unbeweglich. Sein Blick war fest auf einen Punkt auf dem Boden gerichtet, wo sich jedoch nichts rührte. Dennoch knisterte die Luft förmlich vor Anspannung. Neugierig blieb auch Anne in Erstarrung stehen, um das Geschehen zu verfolgen.
Tiger war auf der Jagd.
Anne überlegte sich, ob sie seinem Beispiel folgen sollte. Kleine Nagetiere waren in reichlicher Anzahl vorhanden, sie hatte sie schon seit geraumer Zeit wahrgenommen. Sie schnupperte probehalber und konzentrierte sich dabei auf den nun bekannten Mäusegeruch.
Ja, da war etwas!
Jede Pfote sorgsam, wie auf Zehenspitzen aufsetzend, schlich sie näher an die Erfolg versprechende Stelle heran. Unbewusst empfand sie große Genugtuung über das wundervolle Zusammenspiel ihrer Muskeln. Nichts ermüdete, wurde schwerfällig und eckig. Geschmeidig glitt ihr Körper voran. Dann entdeckte sie die Maus, ein kleines, graubraunes Wesen mit schwarzen Knopfaugen. Einen Bruchteil von Sekunden blickten sich Katze und Maus an, dann huschte das Tierchen von dannen. Anne hatte noch nicht einmal die Chance, auch nur die Pfote zu heben.
Doch sie gab nicht auf. Ein paar Meter weiter bot sich ihr eine neue Möglichkeit zur Jagd an. Vorsichtig geduckt schlich sie vorwärts. Eine braune Haselmaus saß auf einem Holzstück und putzte sich zierlich die Pfötchen.
Eigentlich fand Anne das Tierchen viel zu niedlich zum Fangen, und sie beschloss, die Maus nicht zu töten. Vielleicht konnte sie nur ein wenig Haschen mit ihr spielen.
Anne verharrte und schätzte die Entfernung ab.
Noch zwei Schritte, noch einer, die rechte Pfote hob sich und …
Verwirrt betrachtete Anne die Rindenstückchen zwischen ihren Krallen. Von Haselmaus keine Spur.
Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Sie war leise aufgetreten, ihr Schwanz hatte sich friedlich verhalten, noch nicht einmal der Wind wehte aus ihrer Richtung, und vor Aufregung geschnauft hatte sie auch nicht. Oder?
Sinnend blieb sie einen Moment sitzen und ließ ihren Blick über die
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