Der Tag mit Tiger - Roman
nichts dagegen, wenn du dich hier zu mir in die Sonne legst, aber das Gras musst du dir selber richten.«
Anne trieb gerade etwas Gymnastik, streckte sich, machte einen Buckel und gähnte ausgiebig.
»Einverstanden.«
Sie beobachtete Tiger, wie er durch einige Linksdrehungen ein Nest in die Wiese trat. Da sie etwas eigen war, richtete sie ihren Schlafplatz durch Rechtsdrehungen. Behaglich schnurrend rollte sie sich dann zusammen und schloss müde die Augen.
Doch bevor sie einschlief, dachte sie noch ein Weilchen über ihre Erlebnisse nach. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie in diese eigenartige Lage gekommen war. Irgendetwas Außergewöhnliches war geschehen, das ahnte sie dunkel, konnte sich aber nicht erinnern, was es war. Seltsamerweise fand sie das Katzendasein nicht beängstigend, und auch bei der Vorstellung, es könne dabei bleiben, überkam sie nur Neugier. Die Menschen, die sie kannten, würden sie vermissen. Es wäre sicherlich interessant zu beobachten, was in den nächsten Tagen in dieser Hinsicht geschah. Unerklärlicherweise aber war sie sicher, dass es nicht dazu kommen würde.
»Träume ich das alles vielleicht nur?«, fragte sie sich und zwinkerte noch einmal kurz mit den Augen. Nein, die Schnurrhaaregehörten eindeutig zu ihr, und als sie mit einer Kralle in die Pfote piekste, wurde sie auch nicht wacher davon. Weil sie in seltsam fatalistischer Stimmung war, fand sie sich einfach damit ab, denn selbst wenn sie eine Katze bleibe würde, würde sie Tiger als Begleiter haben. Sie vermutete auch, dass die anderen Katzen sich an sie gewöhnen und sie möglicherweise sogar akzeptieren würden. Das würde sicher interessant werden. Außerdem, überlegte sie schon fast übermütig gestimmt, könnte sie sich einen netten Menschen suchen, der für sie sorgte.
Bei dem Gedanken musste sie leise kichern und wurde mit einem Knurren zurechtgewiesen: »Ruhe!«, kam es aus dem Fellknäuel, das Tiger gebildet hatte.
Eigentlich war es sein völlig selbstverständliches Verhalten ihr gegenüber, das sie beruhigte und ihr die Gewissheit gab, ihr könne nichts Furchtbares passieren. Da er keinerlei Verwunderung über ihre Verwandlung an den Tag gelegt hatte und sich so intelligent wie umsichtig zeigte, beschloss sie mit ihrem letzten Gedanken vor dem Einschlafen, sich auch weiterhin vertrauensvoll seiner Führung anzuvertrauen. Dann sank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Bislang war der Tag auch so schon sehr ereignisreich gewesen.
Doch er sollte noch viel aufregender werden.
Kampf
Die Sonne stieg allmählich höher, und ihre Strahlen wärmten wohlig das Fell von Tiger und Anne. Bienen summten in den Holunderblüten, eine Hummel brummelte schwankend an den Ohren der schlafenden Katzen vorbei, geschäftige Ameisenkrabbelten vor ihren Pfoten umher. Es war ein friedlicher Morgen im Revier. Außer ein, zwei älteren Spaziergängern durchquerten keine Menschen das Gebiet, und auch die hielten sich an die vorgeschriebenen Wege und störten den Schlummer der Katzen nicht. Die Kirchenglocken schlugen pflichtbewusst jede halbe Stunde, und aus den Küchenfenstern der nahen Häuser drang der erste Duft von Vorbereitungen zum Mittagessen. Von irgendwoher drang Musik, rhythmisch, aber nicht unangenehm. Außer dass ihnen ein paar Mal die Ohren zuckten, wenn eine allzu freche Fliege sich auf ihnen niederlassen wollte, regten die beiden Tiere sich nicht.
Doch nicht alles war friedlich.
Zwei schwarzweiß gefleckte Gestalten streiften unternehmungslustig durch die Wiesen. Tim und Tammy gehörten zu einer Gruppe Bauernhofkatzen, die auf der anderen Seite des Wäldchens lebten. Sie waren gewöhnlich nur zu den Futterzeiten in den Ställen anzutreffen. Ins Haus durften sie nicht und hatten auch nicht das Bedürfnis danach. Menschen waren ihnen völlig gleichgültig und die restlichen Lebewesen weitgehend auch.
Sie stammten aus dem Wurf einer Stallkatze und einem unbekannten, aber offensichtlich äußerst kräftigen Vater und waren zusammen aufgewachsen. Ihre schwarzweiße Zeichnung war nichts Ungewöhnliches in der Gegend, jedoch wollte die Laune der Natur, dass ausgerechnet Tim außer einer verwegenen schwarzen Zeichnung um Nase und Maul fast völlig weiß war. Schwarz waren nur die Schwanzspitze und das Kinn. Durch diese Gesichtszeichnung erhielt er das Aussehen, als trüge er einen Spitzbart, worauf er unbegründet stolz war – und natürlich überaus empfindlich, wenn dieser Stolz verletztwurde. Einige
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