Der Tag mit Tiger - Roman
Landschaft schweifen. Das Gras war noch frühsommerlich grün und saftig, die langen Zweige der Weiden am Bachufer wiegten sich sanft hin und her, und im Schatten der Büsche und Sträucher netzte noch morgendlicher Tau die Erde. In ihrem näheren Umkreis blühten dunkelgelbe Sumpfdotterblumen, und einige wilde Vergissmeinnicht trugen noch blassblaue Blütensternchen. Alles strahlte frisch im Morgenlicht, und Anne erkannte ihre Gestalt von den Pfoten bis zu den gespitzten Ohren in dem langen Schatten, den die Sonne hinter ihr erzeugte.
Der Schatten hatte sie verraten!
Das war also der Grund für den Misserfolg. Diese Erkenntnis gab ihr neuen Auftrieb. Sofort suchte sie die Umgebung nach einem neuen Opfer ab. Nicht lange, und sie hatte ein Zielentdeckt. Diesmal näherte sie sich von der richtigen Seite dem herabgefallenen Ast, hinter dem sie die Maus vermutete. Da saß das Tierchen auch schon, ihr den Rücken zugewandt, beim Frühstück und knabberte an einem Körnchen. Selbstbewusst und ohne Zögern setzte Anne zum Hieb an. Sie erwischte die überraschte Maus auch, allerdings nur noch am Schwanz. Die Kleine konnte sich befreien und huschte einige Meter weiter unter einen Stein, wo sie bewegungslos liegenblieb.
Anne war jetzt vom Jagdfieber gepackt. Sie schlich näher und blieb ebenfalls regungslos sitzen, so wie sie es vorhin bei Tiger gesehen hatte. Die Maus konnte nicht ewig so ruhig bleiben.
Nichts durchbrach ihre Achtsamkeit. Anne bemerkte den Fasan nicht, der ihr bei seinem Familienausflug fast auf den Schwanz getreten wäre, hörte die kreischenden Bremsen und das anschließende Hupkonzert von der Straße nicht und sah auch die beiden Katzen nicht, die sie aus einiger Entfernung neugierig beobachteten. Nur die Maus zählte. Wenn nur dieses unkontrollierte Zucken im Schwanz nicht wäre. »Gib Ruhe!«, befahl sie ohne Erfolg.
Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Maus.
Was war das? Eine winzige Bewegung im Gras.
Die Ohren justierten sich neu.
»Jetzt will sie ausbüchsen.«
Die Hinterbeine spannten sich, und genau in dem Moment, in dem die Maus ihr Versteck verlassen hatte, war Anne mit einem hohen Sprung über ihr. Wie von selbst gruben sich ihre Fangzähne in den Nacken der Beute.
Ein Freudenmaunzer entwischte ihr ganz gegen ihren Willen. Er klang ziemlich vollmundig.
»Das muss ich Tiger zeigen, Tiger zeigen, Tiger zeigen«, sangAnne gut gelaunt vor sich hin und lief, die Maus quer im Maul, zu dem Holunderbusch, unter dem Tiger sich inzwischen zu einem Schlummer zurückgezogen hatte. Voller Eifer wusste sie gar nicht, wie sie ihn wecken sollte. Doch er hatte in seinem wachsamen Schlaf bereits gespürt, dass sich ihm etwas näherte, und schlug just in dem Augenblick die Augen auf, als Anne ihm die Maus vor die Nase hielt. Sein Blick spiegelte Erstaunen und Unglauben wider, aber er hatte sich schnell wieder im Griff.
»Wo hast du das abgelegte Teil denn gefunden?«, knurrte er, noch immer den Mürrischen spielend.
»Die Maus habe ich selbst gefangen! Gut, nicht?« Lob erheischend schaute sie ihn an. »Sie ist für dich, Tiger. Bitte! Sie ist wirklich ganz frisch.«
»Wer Mäuse fängt, kann auch Mäuse fressen. Du bist dran, ich habe meine schon gehabt.«
Das klang wieder ganz freundlich.
»Ich möchte sie aber dir schenken, sozusagen als Entschuldigung für mein schlechtes Benehmen vorhin.«
»Ach was! Das ist doch schon vergessen. Komm jetzt, verputz dein Leckerchen.«
Anne schluckte. Mäusefangen war ganz lustig, aber mit dieser Konsequenz hatte sie nun nicht gerechnet. Bei dem Gedanken, die Maus fressen zu müssen, hatte sie das Gefühl, sogar ihre rosafarbene Nase würde sich grün verfärben.
»Ich, äh … also ich glaube, ich mag die Maus lieber filetiert. Oder vielleicht gebraten?«, schlug sie vor. »Ich nehme sie dann mit.«
Tiger musterte sie mitleidig und meinte gelassen: »Roh sind sie aber am besten, das warme Blut, die knackigen Knochen …«
»Ulps«, antwortete Anne und verschwand im Gebüsch.
»Na, wenn du so etepetete bist, werde ich mich ihrer wohl doch annehmen müssen«, rief ihr Tiger hinterher und setzte hinzu: »Friss ein bisschen Gras, das reinigt den Magen.«
Nach einigen Minuten kam Anne zurück und konstatierte: »Die Haare schmecken aufwärts auch nicht besser als abwärts.« Erleichtert stellte sie fest, dass die Maus verschwunden war.
»Ich glaube, wir beide haben ein Ruhepäuschen verdient«, schlug der vollgefressene Tiger vor. »Ich habe
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