Der Tag mit Tiger - Roman
verspeisen. An Anne dachten sie dabei selbstverständlich nicht.
Sie war aber inzwischen auch nicht untätig gewesen, indem sie versuchte, die Pappe einer Sahnepackung aufzubeißen. Nach einigen Minuten war ihr das auch gelungen, und mit ein paar geschickten Pfotenstupsern hatte sie die Packung an den Rand des Waschbeckens befördert, von wo die Sahne in eineabgespülte Suppenschale tropfte. Das Problem bestand jetzt nur noch darin, ebenfalls in das Spülbecken zu gelangen, um die Milch aus dem tiefen Teller zu lecken. Sprungtechnik war nicht geraten, also ließ sie sich vorsichtig über den Rand gleiten und hockte sich ungeschickt in das enge Becken. Immerhin hatte sie jetzt den fast vollen Teller Sahne vor sich, und der Genuss ließ sie die unelegante Haltung vergessen.
Tiger und Nina waren inzwischen mit ihrer Mahlzeit fertig und blickten sich suchend nach Anne um. Nina entdeckte ihren lustvoll vibrierenden Schwanz zuerst.
»Sie ist im Spülbecken, Tiger.«
»Das darf doch nicht wahr sein! Anne, hast du das noch immer nicht kapiert? Katzen duschen nicht.«
Als Antwort kamen nur leise Schlabberlaute.
»Du, Tiger, das riecht nach Sahne. Ich mag doch sooo gerne Sahne«, gurrte Nina sehnsüchtig.
»Dann komm hoch, es ist genug für alle da«, ließ Anne verlauten, dann verschwand der Schwanz, und ihr Kopf erschien über dem Beckenrand, das Mäulchen geziert mit einem veritablen Milchbart. Nina ließ sich das nicht zweimal sagen und sprang hoch. Kritisch musterte sie das enge Becken und sagte dann: »Zu zweit wird das ein wenig eng. Meinst du, du könntest mich da auch mal reinlassen?«
Großzügig räumte Anne das Feld.
»Lass Tiger auch noch etwas übrig! Ich schaue inzwischen in der Speisekammer nach, ob ich noch etwas für dich finde.«
Die Tür zum Vorratsraum war inzwischen durch den Luftzug wieder zugefallen, und so musste Anne den Trick mit dem Türenöffnen noch einmal ausführen. Dann war sie in der kleinenKammer und machte sich über eine der beiden kalten Frikadellen her, die sie sich vorgemerkt hatte. Das war die ultimative Alternative zur Maus, fand sie. Als ihr Hunger gestillt war, schlüpfte sie wieder in die Küche, um sich den beiden Freunden anzuschließen. Hier bot sich ein erstaunliches Bild. Inzwischen hatte es auch Tiger geschafft, die Grenzen der eingeprägten Verhaltensmuster zu überwinden und saß im Becken, um Milch zu schlabbern. Doch Nina hatte den Teller leer gemacht, und die Sahne in der Packung hatte nicht mehr genug Neigung, um nach unten zu laufen. Also schaute Tiger mit säuerlicher Miene über den Beckenrand und beschimpfte Nina.
»Rücksichtsloser, hirnloser, egoistischer, grenzdebiler Fußabstreifer! Man sollte dich ausstopfen und vor den Kamin legen. Da wärst du mehr wert als jetzt. Ganz allein die Milch wegputzen, kein Benehmen, keine Erziehung. Als wärst du ganz alleine auf der Welt. Rücksichtnahme ist dir ein Fremdwort, Teilen eine unbekannte Tugend, du Lausepelz.«
Nina drehte ihm nach dieser charmanten Tirade beleidigt den Rücken zu.
Anne lauschte fasziniert, wie Tiger den Charakter seiner Freundin in Fetzen riss und nickte weise. Das Denkvermögen einer gierigen Katze ließ wirklich sehr zu wünschen übrig, aber wohlweislich unterließ sie eine darauf abzielende Bemerkung und versuchte, schlichtend einzugreifen.
»Was regst du dich denn so auf, Tiger? Pass auf, du sollst deine Sahne bekommen.«
Sie sprang wieder auf die Arbeitsplatte und drückte mit einer Pfote auf die Packung, doch wieder einmal hatte sie ihre Kraft unterschätzt. Der erste Sahnestrahl schoss aus der Öffnung und übergoss Tiger von oben bis unten mit der weißenFlüssigkeit. Verblüfft hielt er in seiner zornigen Rede inne und sagte: »Bingo!«
Nina drehte sich um, starrte den triefenden Tiger wortlos einen Moment an. Dann wäre sie fast vom Tisch gefallen, so sehr schüttelte sie ein aufkommendes Lachen. Anne, die befürchtete, sie würde deshalb das Opfer einer wüsten Beschimpfung, setzte zu einer Entschuldigung an. Doch dann bemerkte sie erstaunt, dass auch Tiger angefangen hatte zu kichern.
»Soviel zum Duschen! Na gut, ein Sahnebad gibt ein glattes Fell. Ihr beide dürft das pflegen, während ich diesen Teller leer mache.«
»Klar, Pascha, so einen leckeren Kater vernaschen wir allemal gerne. Auf geht’s, Anne, putzen wir den kleinen Milchbart!«
In der Zeit, in der Tiger mit dem wieder gefüllten Teller beschäftigt war, säuberten Nina und Anne alle erreichbaren Stellen
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