Der Talisman (German Edition)
nur noch Augen für ihn haben. Den Gedanken, dass er noch vor wenigen Minuten mit Graf Gregorio die Arena verlassen wollte, weil ihnen dieses grausame Schauspiel nicht gefiel, verdrängte Yasha schnell. Und um sein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen, begann er, sich über seinen Freund zu ärgern. Graf Gregorio mit seiner Babygeige kam ihm plötzlich lächerlich vor.
In diesem Moment ertönte lautes Rufen von den Rängen, denn der nächste Stier wurde in die Arena getrieben. Yasha straffte die Schultern und stand auf. Er war plötzlich stolz, eitel und eingebildet. Graf Gregorio war entsetzt. »Bitte tu das nicht! Es ist brutal und gefährlich!«, rief er und griff nach Yashas Ärmel.
Wütend riss Yasha sich los und brüllte laut: »Du Schwächling, ohne deine alberne Geige bist du ein Nichts. Fass mich nicht an!« Der rote Samtkasten mit der kleinen Geige darin fiel krachend zu Boden. Verächtlich schubste Yasha seinen Freund zur Seite und versetzte dem unschuldigen Samtkasten einen heftigen Tritt. Der Streit der beiden war nicht unbemerkt geblieben. Immer mehr Zuschauer sahen neugierig zu ihnen herüber. Geblendet von seiner eigenen Wichtigkeit betrat Yasha die Arena. Vor ihm schnaubte der riesige Stier. Das massige Tier hatte Hörner wie Dolche. Die Picadores
hatten gute Arbeit geleistet. Der Stier war schon sehr schwach und blutete aus vielen Wunden. »Jetzt werde ich dich töten!«, zischte Yasha und reckte sich in seinem goldenen Kostüm in die Höhe. Dann federte er schwungvoll auf die Zehenspitzen und hob den Degen, um dem Stier den Todesstoß zu versetzen.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah er im Hintergrund auf der Tribüne die bestürzten Gesichter von Panna und Graf Gregorio. Einen Augenblick, nur einen winzigen Augenblick war er dadurch abgelenkt! In diesem Moment senkte der Stier den Kopf und raste auf Yasha zu.
Von der Tribüne tosten Angstschreie auf. Yasha spürte einen scharfen Schmerz und sah, wie sich ein riesiger Blutfleck auf seiner Brust ausbreitete. Er röchelte: »Panna, Panna!« Dann verlor er das Bewusstsein.
Ganz weit entfernt, wie durch einen Nebelschleier vernahm Yasha die Stimme des Arztes: »Das überlebt der Junge nicht, tut mir leid. Ach Schwester, bitte lassen Sie den schwarzen Schmetterling raus, bevor Sie gehen!« Yasha hörte leise Schritte an seinem Bett, ein Fenster wurde geöffnet und wieder geschlossen. Dann fiel die Tür ins Schloss und er war wieder allein.
Tief im Unterbewusstsein
hörte er die Stimme
seines Vaters: »Yasha, mein Sohn, du wirst viele Abenteuer bestehen müssen, aber wir wachen über dich und irgendwann werden wir uns in den Armen halten! In der Welt gibt es viel Not und Leid. Deine Erfahrungen dürfen nicht verloren gehen. Sie können für andere Kinder wichtig sein. Die Zeit kommt und du wirst alles in unser Familienbuch schreiben, was du erlebt hast!« Yasha schämte sich: Er hatte in seinem Größenwahn seine Eltern vergessen. Die magischen Kräfte des Talismans hatte er aus reiner Angeberei benutzt und auch noch für einen schlechten Zweck! »Und nun ist es zu spät, ich werde sterben«, dachte er kläglich. Dann versank Yasha in einen langen, tiefen Schlaf.
Die Nachtschwester eilte mit einem Tablett voller Medikamente zu Yashas Zimmer. Verwundert schüttelte sie den Kopf, als sie die glitzernden Staubteilchen bemerkte, die im schwach beleuchteten Korridor langsam zu Boden schwebten und griff nach der Türklinke. »Ach, ich wünschte, ich hätte heute frei und könnte Fernando besuchen!«, murmelte sie. Die Wexelstaubwolke und die Nachtschwester begannen zu glühen und erleuchteten für einen winzigen Moment die hagere Gestalt eines Pflegers, der reglos im dunklen Zimmer stand.
Es kam selten vor, dass der Schwarzmagier Olav Zürban lächelte, noch seltener kam es vor, dass er einem anderen Menschen etwas gönnte. Aber dieser Zufall war einfach zu zauberhaft. Mit dem Wexelstaub wechselte man den Ort und sein Aussehen. Vor wenigen Minuten hatte der Schwarzmagier selber vor Yashas Tür gestanden und eine großzügige Portion Wexelstaub in die Luft geworfen, um sich in einen Pfleger zu verwandeln. Es musste noch genug magischer Staub in der Luft geschwebt haben, um den Wunsch der hübschen Krankenschwester zu erfüllen. Und in diesem Augenblick war Olav Zürban sehr milde gestimmt.
Er war erfreut gewesen,
als einer seiner schwarzen
Schmetterlinge Yasha in Granada aufgespürt hatte. Das war ein ganz klares Zeichen dafür, dass der
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