Der Talisman (German Edition)
helfen!«
Noch am selben Abend schlenderte Yasha durch die verwinkelten Gässchen des Zigeunerviertels. An einem Briefkasten blieb er stehen und warf den Brief an Mutter und Vater Gössler ein, den er in der Herberge geschrieben hatte. Die gefährlichsten seiner Abenteuer hatte er natürlich weggelassen, denn Mutter Gössler sollte sich keine Sorgen machen. Sie machte sich nämlich schnell Sorgen. Sacromonte ist ein buntes und lebendiges Viertel. Sobald die Sonne untergeht und sich die Schatten der Nacht über die Stadt legen, werden auf den Plätzen Lichter entzündet und die rhythmischen Klänge des Flamencos lassen die Luft vibrieren. Die schmalen verschlungenen Wege reflektieren noch die Hitze des Tages. Schwerer Duft von Blumen, mit denen die Einwohner ihre Mauern schmücken, liegt in der Luft und dazwischen mischt sich der verlockende Geruch der Garküchen, die auf den Plätzen des Viertels ihre Speisen anbieten.
Yasha setzte sich in ein kleines Café und bewunderte die feurigen Tänze, die Liebe, Leidenschaft und Ehre ausdrückten. Ein besonders talentierter Flamencosänger sang hinreißend schöne Geschichten aus seinem Leben. »Die weise Frau hatte Recht. Hier in Sacromonte«, dachte Yasha, »finde ich vielleicht meine Eltern oder bekomme wenigstens einen Hinweis darauf, wo ich sie finden kann.«
Von nun an ging Yasha jeden Abend, sobald die Sonne unterging, zum Zigeunerberg. Er setzte sich immer in dasselbe kleine Café. Dort lauschte er dem dunkelhaarigen Flamencosänger, dessen Gesang ihn so faszinierte. Doch es vergingen Wochen, bevor Yasha es wagte, den Sänger zu fragen, ob er ihm bei seiner Suche helfen könnte.
»Amigo!«, sagte der dunkelhaarige Sänger. »Ich habe dich jeden Abend hier gesehen und deine Augen verrieten mir: Der Junge sucht etwas! Also sprich, Amigo, sprich!« Und Yasha schüttete ihm sein Herz aus. Lange blieb der Sänger still und nachdenklich, dann deutete er auf den Talisman: »Du bist Yasha, nicht wahr? Ja, der bist du! Deine Eltern lebten eine Weile hier in Sacromonte. Sie waren aus Afrika gekommen. Aber das ist schon lange her. Dein Vater verdiente sich ein bisschen Geld, indem er hier auf den Plätzen des Viertels sang. Und singen konnte er, Amigo! Die Stimme deines Vaters hat uns bezaubert! Er sang auf Russisch, glaube ich.« »Auf Ungarisch!«, verbesserte ihn Yasha. »Aber woher weißt du meinen Namen?«
»Die Lieder deines Vaters
handelten
immer von dir, seinem verloren gegangenen Sohn. Du siehst deinem Vater sehr ähnlich. Claro, du verstehst! Vor einiger Zeit sind deine Eltern weitergezogen, dorthin, wo sich die Trennung des Wassers vollzieht, aber wo das ist, kann ich dir leider nicht sagen.« Der Sänger lächelte Yasha zu und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und stimmte ein so unendlich trauriges Lied an, dass sogar die Kastagnetten ein bisschen weinerlich klapperten. Yasha unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Wieder einmal hatte er seine Eltern knapp verpasst. Geistesabwesend bestellte er sich einen Kaffee »solo«. Das ist ein Kaffee ohne Milch und Zucker. »Solo« heißt auf Spanisch auch »alleine« und genau so fühlte sich Yasha in diesem Moment.
Um sich abzulenken,
griff der Junge nach
einer Zeitung. Geistesabwesend überflog er die Überschriften der Artikel: Stierkampf in Córdoba: Stier sprang über die Barrikade. – Orangenernte: ein Rekordjahr! – Eröffnung: Seine Majestät, der König von Spanien, eröffnet eine große Picasso-Ausstellung.
Yasha blätterte weiter, da las er eine Überschrift, die ihn elektrisierte: »Dem Geheimnis auf der Spur: Schreckliches Unwetter in Brasilien überrascht eine Gruppe Wissenschaftler, die dem Rätsel der Trennung des Wassers auf der Spur sind!«
Gespannt las Yasha den Artikel. Ein Hagelsturm hatte in Brasilien hunderte von Dörfern verwüstet. Die Hagelkörner, viele waren größer als Orangen, brachten auch einen Dampfer in der Nähe von Manaus zum Kentern. An Bord befanden sich der berühmte Professor de Sellia aus Spanien und eine Gruppe Wissenschaftler, die das Rätsel der Trennung des Wassers erforschten. Die magischen Aspekte der Trennung des Wassers sollten von dem Zauberer Dvorach und seiner Frau erforscht werden. Die Trennung des Wassers ist eine ausgesprochen rätselhafte und interessante Naturerscheinung. Das schwarze Wasser des Flusses Rio Negro mündet in die gelben Fluten des Amazonas. Auf einer Strecke von zehn Kilometern fließen
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