Der Talisman (German Edition)
traurig, je nachdem, was dort geschehen war. Die kleine Geige erzählte fast vergessene Geschichten über Liebe, Mord und Verzweiflung. Graf Gregorio ließ durch die kleine Geige jeden Turm, jeden Palast, jeden geheimen Garten und jeden gruseligen Kerker seine eigene Geschichte erzählen.
»Oh selig, Auge zu sein in diesem Garten der Schönheit!«, sang die kleine Geige im Löwenhof mit seinen 124 wunderschönen Säulen und 12 wasserspeienden Löwen. In einem herrlichen Gewölbe weinte die kleine Geige: »Hier hatte Sultan Abdul Hassan 36 junge Männer töten lassen – aus Eifersucht.«
Die Menschen folgten Graf Gregorio und seiner kleinen Geige durch duftende schattige Gärten, über steinerne Terrassen und vorbei an kristallklaren Bädern. Graf Gregorio wurde umjubelt, man warf ihm Blumen zu. Ja, einer küsste sogar die kleine Geige und das hatte sie sich auch verdient! Dann öffnete Graf Gregorio den kleinen roten Samtkasten und legte die völlig erschöpfte Geige zärtlich hinein.
»Und jetzt, Yasha, gehen wir zu einer großen Corrida, einem Stierkampf. Heute tritt der bekannteste Torero Spaniens auf, er ist Zigeuner und heißt Olero. Ganz Granada wird sich an der ›Plaza de Toros‹ versammeln. Vielleicht sind deine Eltern auch dort!«, verkündete Graf Gregorio unternehmungslustig.
Und so eilten
die beiden Freunde zur
Plaza de Toros. In den kleinen Gassen rund um die Arena herrschte emsige Betriebsamkeit. Die kleinen Buden, an denen erfrischende Getränke und lecker duftende Speisen angeboten wurden, machten heute gute Geschäfte. In einer wahren Flutwelle von Menschen, dicht gedrängt, gelangten die beiden Freunde in die Arena. Graf Gregorio klemmte den roten Samtkasten ganz fest unter seinen Arm, mit der anderen Hand hielt er Yasha fest.
Glücklich erreichten die beiden ihre Sitzplätze, direkt gegenüber einem knallroten, doppelflügeligen Tor. »Durch dieses Tor kommt der Stier in die Arena«, flüsterte Graf Gregorio dem Jungen zu. Und da erschien auch schon ein riesiger schwarzer Stier. Er donnerte wie ein Monster in die Arena, scharrte mit seinen Hufen und wirbelte dabei eine riesige Staubwolke auf. Die Hörner glänzten in der Abendsonne wie Stahl. Gefährlich schnaubend hielt er inne. Große Schaumflocken flogen von seinen Nüstern. Die Zuschauer hielten den Atem an. Ein Picador schritt in die Arena. In einer Hand hielt er eine lange Lanze, mit der anderen ließ er geschickt seinen blutroten Umhang durch die Luft wirbeln, um den Stier zu reizen. Wütend scharrte das mächtige Tier im Sand der Arena. Mit gesenktem Kopf griff der Stier den Picador so heftig an, dass fast die Lanze zerbrochen wäre. Zwei weitere Picadores eilten zu Hilfe. Es war ein blutiges Schauspiel. Yasha und Graf Gregorio wechselten kurze Blicke. Was sie sahen, gefiel ihnen ganz und gar nicht.
Es war zu grausam! Aber die Menschen in der Arena tobten und brüllten vor Begeisterung. Dann erschien Olero, der Torero, der Held des Tages, um dem blutüberströmten Stier den so genannten »Gnadenstoß« zu versetzen. Die begeisterten Zuschauer überschütteten den eleganten Mann in dem gold glänzenden Kostüm mit donnerndem Applaus.
Stolz deutete
Olero mit seinem Degen
auf den Stier, der tot im Sand der Arena lag. Dann riss er seine Arme in die Höhe und drehte sich selbstgefällig lächelnd im Kreis herum, damit man ihn von allen Seiten bewundern konnte. Yasha rutschte unbehaglich auf seinem Sitzplatz herum, am liebsten hätte er die Arena verlassen. Und weil er den armen toten Stier nicht ansehen wollte, musterte er die Reihen der Zuschauer. Plötzlich stockte ihm der Atem. Zwischen den vielen Menschen entdeckte er, schöner denn je, Panna. Sie lächelte strahlend und warf Olero eine Blume zu. Der Torero hob sie auf, eilte zu Panna und gab ihr die Blume mit einem Handkuss zurück. Yasha fühlte die Eifersucht wie Gift in sich aufsteigen. Er war so eifersüchtig, dass er wie von Sinnen seinen Talisman anflehte: »Ich will auch Torero sein! Ja! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche ein Torero wie Olero zu sein!« Es war unglaublich, aber der Talisman reagierte auf diesen Wunsch. Es funkelte und blitzte und schon saß Yasha in einem gold bestickten Anzug auf seinem Platz neben Graf Gregorio.
Mit eiskaltem Blick beobachtete Yasha, wie der tote Stier aus der Arena gezogen wurde und Olero begleitet von lautem Applaus der Zuschauer die Kampffläche verließ.
Gleich würde er,
Yasha, der
gefeierte Held sein und Panna würde
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