Der Talisman (German Edition)
am Strand das Segelboot? Es soll dir gehören. Du musst noch heute Nacht fortsegeln. Und, Yasha-Geist, du hast Glück: Zu dieser Jahreszeit weht der gute Nord-Ost-Passat. Mit seiner Hilfe ist es leicht für dich, Cabeluda zu erreichen. Ich bringe dir gleich Essen und Trinken für die Reise an Bord.«
Der alte Manolo Groß hatte genug Erfahrung mit Geistern, um zu wissen, dass sie weder Essen noch Trinken brauchen. Aber es ist wichtig, nett zu Geistern zu sein. »Was ist ein Passat?«, fragte Yasha neugierig. »Das ist ein Wind, den alle großen Seefahrer kennen. Ab Juli treibt er die Segelschiffe von Osten aus Europa in Richtung Westen. Aber nun, Yasha-Geist, muss ich alles vorbereiten, damit du heute Nacht aufbrechen kannst!«, erklärte Manolo Groß und bat Yasha, sich in einer Truhe zu verstecken. Heute Nacht, wenn es dunkel würde, sollte sich Yasha zum Strand schleichen, um mit dem Boot davonzusegeln und – bitte, bitte nie wieder herkommen!
Folgsam
tappte Yasha
zur schweren Holztruhe. Kaum hatte sich der eisenbeschlagene Deckel über ihm geschlossen, polterte es laut an der Tür. Yasha konnte hören, wie Manolo Groß zur Tür schlurfte und sie öffnete. Dann vernahm er aufgebrachte Stimmen.
Die gereizten Dorfbewohner drängten sich vor der Tür. Sie waren mit Messern und Äxten bewaffnet und flehten Manolo Groß an, den Geist sofort zu töten! Aber Manolo Groß weigerte sich. Mit ernster Miene wandte er sich an den Priester und befahl ihm, mit den Dorfbewohnern in die Kirche zu gehen: »Bleibt dort und betet für das Dorf, bis ich euch hole«, sagte er streng. »Bei der Heiligen Maria der Fischer: Ich verspreche, noch bevor der Mond aufgegangen ist, hat der Yasha-Geist unsere Insel verlassen!« Fluchend und jammernd folgten die Fischer ihrem Priester zur Kirche. Manolo Groß atmete erleichtert auf. Nun konnte er sich endlich um das Boot und den Proviant für den Geist kümmern. Yasha hatte alles mit angehört und zitterte vor Angst am ganzen Leib. Er war dem Dorfältesten sehr dankbar. Hätte ihn Manolo Groß nicht in der Truhe versteckt, wäre er von den Dorfbewohnern vermutlich totgeschlagen worden. Verzweifelt umklammerte Yasha den steinernen Schmetterling und flüsterte: »Oh, was hast du nur wieder getan? Warum hast du mich nicht sofort nach Cabeluda gebracht? Meine Eltern brauchen mich und ich bin doch kein Segler. Wie soll ich das Boot steuern, wie den Weg finden? Bitte leuchte wenigstens ein bisschen. Es ist hier in der Truhe so dunkel!« Doch der Talisman schwieg und tat Yasha auch nicht den Gefallen zu leuchten. Verzweifelt fing der Junge an zu weinen. Aber das hätte er besser lassen sollen.
Mit leisem
Knarren öffnete
sich die Tür. Hätte Yasha nicht so furchtbar laut geschluchzt, hätte er gehört, dass sich jemand heimlich ins Haus schlich. Die nackten Füße einer großen, schweren Person patschten durch alle Zimmer. Es raschelte und klapperte leise, denn der Eindringling stöberte überall herum. Das zufriedene Lachen, mit dem der Mann eine Handvoll Münzen in seiner Hosentasche verschwinden ließ, verriet, dass hier ein Dieb, vielleicht sogar ein Pirat am Werk war.
Augenblicke später entdeckte der Eindringling den Tresor von Manolo Groß und stellte ihn neben die Haustür, wo er bereits einen ansehnlichen Berg Beute aufgestapelt hatte.
Dann ging der Dieb auf die schwere Holztruhe zu und horchte auf. Dass eine Truhe laut schniefend heulen konnte, war dem Mann neu und irgendwie gefiel ihm das gar nicht! Nach seinem Geschmack sollten sich in Truhen nützliche Dinge wie Goldmünzen, Schmuck oder wenigstens einige Flaschen Rum befinden. Vielleicht weinte die Truhe ja, weil sie leer war, überlegte der Dieb und rückte nachdenklich sein schwarzes Piratenkopftuch zurecht. Dann näherte er sich neugierig, hob seinen riesigen Fuß, holte aus und versetzte der Truhe einen festen Tritt.
» Aua!
Sofort aufhören!«, tönte es
dumpf aus der Tiefe. Mit einem lauten Krachen flog der Deckel auf und Yasha sprang aus seinem Versteck. Der riesige Mann erschrak und rannte zur Tür, um mit seiner Beute zu fliehen. Aber Yasha war schneller und versperrte ihm den Weg – wenn man das »versperren« nennen konnte! Denn vor ihm stand ein Riese, der so groß war, dass Yasha von ihm nur den gigantischen Riesenbauch sehen konnte, der in einem rotweiß gestreiften Pullover steckte. An der Tür hob der Riese den Tresor von Manolo Groß hoch und schüttelte ihn wie eine Streichholzschachtel vor Yashas Nase
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