Der Talisman (German Edition)
die schonungslose Beschreibung.
Yasha war schockiert. Von nun an würde er doppelt so vorsichtig sein. Er ballte die Hände zu Fäusten und murmelte, um sich Mut zu machen: »Ich kann, ich kann, ich kann und ich will, ich will, ich will meine Eltern finden und meinen Vater retten.« Dann umarmte er seine Freunde zum Abschied.
»Talisman«, sagte er leise, »Talisman, schnell! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche nach Cabeluda zu kommen, aber schnell!«
Kaum hatte Yasha sich gewünscht, auf die Insel Cabeluda zu gelangen, donnerte es ganz schrecklich und der Talisman zauberte ihn unsanft auf einen einsamen Strand.
Das Meer gurgelte und schäumte, heftiger Regen prasselte vom Himmel. Angewidert spuckte Yasha die eklige Mischung aus Salzwasser und Sand aus, da türmte sich schon die nächste riesige Welle vor ihm auf. Der Junge hielt die Luft an und krallte die Hände in den Sand, als das Wasser ihn überrollte. Das Meer zerrte mit aller Kraft an ihm. Mühsam rappelte er sich auf und brachte sich in Sicherheit.
In der Ferne entdeckte Yasha ein kleines Fischerdorf. Flink kletterte er über die glatten Felsen am Ufer. Der schmale Pfad, der zu den ärmlichen Häusern führte, war vom vielen Regen ganz schlammig. Kein Mensch war zu sehen. »Natürlich werden die Leute in ihren Häusern sein. Bei diesem Sturm würde man ja nicht einmal einen Hund vor die Tür jagen«, dachte Yasha und wischte sich eine nasse Haarsträhne aus den Augen. Da entdeckte er die Dorfbewohner. Sie saßen auf dem überdachten Teil des Dorfplatzes, unterhielten sich und flickten dabei ihre Netze. Schüchtern näherte er sich. »Hallo«, stellte er sich vor, »ich heiße Yasha und komme aus Budapest. Ist das hier die Insel Cabeluda?« Die Menschen starrten ihn erschrocken an. Eine Frau schrie hysterisch: »Ein Geist! Schon wieder ein Geist, schnell weg!« Die Leute gerieten in Panik. Sie schubsten und drängelten, um möglichst schnell aus Yashas Reichweite zu kommen, und versteckten sich in ihren Häusern.
Nur ein alter,
grauhaariger Mann hatte
sich nicht von der Stelle gerührt. Bedächtig legte er das Netz, an dem er gearbeitet hatte, neben sich auf den Boden und ging auf Yasha zu. Der Junge zuckte erschrocken zusammen, als der alte Mann ihn mit ausdrucksloser Miene am Ärmel griff und hinter sich herzog.
Nach wenigen Metern blieb er vor einem ärmlichen Fischerhäuschen stehen. Eilig schob der alte Mann Yasha ins Haus und verriegelte sorgsam die Tür hinter sich.
»Ich«, sagte der Fischer unsicher und vermied dabei, Yasha anzusehen, »ich bin der Dorfälteste, Manolo Groß. Bist du vom Himmel gefallen? Mit einem Schiff bist du jedenfalls nicht gekommen. Denn mir wurden heute keine Boote gemeldet! Und von einer Insel oder einem Hafen namens Budapest habe ich noch nie etwas gehört.« »Budapest ist eine Stadt in Europa. Ich muss auf die Insel Cabeluda, um meinen Vater …«, setzte Yasha zu einer Erklärung an. Doch der alte Mann unterbrach ihn und raufte sich seine grauen Haare: »Heilige Santa Maria der Fischer, du bist der wandernde Geist eines Schiffbrüchigen!«
Manolo Groß
hatte allen Grund
sich zu fürchten, denn in der letzten Zeit war das Dorf ungewöhnlich oft von Geistern der verschiedensten Art heimgesucht worden. Die »Wandernden« waren besonders gefährlich. Sie brachten Krankheiten und Missernten. Bisher hatte man die Spukgestalten erfolgreich mit Messern und Äxten verjagen können, aber ob das jedes Mal klappen würde? Die Fischer lebten in Angst und wurden sich nicht einig darüber, wie sie der Geisterplage Herr werden sollten. Darum herrschten seit Langem schon Streit und Feindschaft im Dorf.
Manolo Groß musterte Yasha heimlich. Eigentlich sah sein ungebetener Gast aus wie ein normaler Junge. Wie ein nasser Junge, ergänzte der alte Manolo seinen Gedanken, denn das Wasser tropfte aus Yashas Kleidern und bildete kleine Pfützen auf dem Holzboden. Das wirkte irgendwie recht menschlich. Trotzdem gefiel es dem alten Fischer gar nicht, mit diesem Geist allein zu sein und er wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. »Yasha-Geist, bitte verlasse uns!«, flehte er. »Du bist auf der falschen Insel!« Und dann erklärte er dem Jungen, dass die Insel, auf der sie sich befanden, zu den Kapverdischen Inseln vor Afrika gehörte. Yashas Ziel jedoch, die Insel Cabeluda, liegt im Atlantischen Ozean östlich von Brasilien. Manolo Groß deutete mit seiner spindeldürren Hand aus dem Fenster: »Siehst du da unten
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