Der Talisman (German Edition)
Yasha beugte sich über den Rand des Bootes und sah auf dem Grund viele weiße Fische. Kemal griff sich die Ruder und manövrierte zielsicher durch den Wald aus Säulen. Plötzlich hörte er auf zu rudern und zeigte zur Decke. »Hör, Yasha!« »Die kleine Geige!«, rief der Junge und seine Worte hallten laut durchs Gewölbe. Kemal legte den Finger auf seine Lippen und sah Yasha strafend an. »Ruhig, du dummes Junge, nix Getöser machen hier unten! Sonst Wächterin kommen und machen Stress mit uns! Wir gleich an Ziel!« Kemal legte mit dem Boot an und band es sorgfältig fest. Vor ihnen war ein schmaler, glitschiger Vorsprung, der zu einer verrosteten Tür führte. Kemal klopfte dreimal an. Ein Blinder öffnete und ließ die beiden eintreten. Kemal gab ihm ein Almosen. »Allah sei mit euch!«, bedankte sich der Blinde heiser.
Durch einen unendlich langen Gang gelangten Kemal und Yasha in den Hauptraum der Hagia Sophia. Die Hagia Sophia ist das Wahrzeichen von Istanbul. Sie wurde in nur fünf Jahren erbaut und im Jahr 537 eingeweiht. Die ersten 1 000 Jahre war sie eine christliche Kirche, danach die islamische Hauptmoschee von Istanbul. Heute wird die Hagia Sophia als Museum genutzt.
Kemal durchquerte den Hauptraum und deutete auf eine Säule: »Dies sein berühmte schwitzende Säule. Sie hat Kräfte ganz wundersam. Aus ihr wirst du hören den Gesang kleiner Geige. Ich verlassen dich jetzt.« Yasha zückte ein paar Lira, aber Kemal lehnte ab. »Allah sei mit dir!«, rief er Yasha zu und verschwand in der Menschenmenge.
Yasha ging zur Säule und tatsächlich, sie war nass. Der poröse Stein, aus dem sie bestand, saugte das Wasser regelrecht aus der darunterliegenden Zisterne nach oben. Neugierig presste Yasha sein Ohr dagegen. Die Stimme der kleinen Geige war ganz deutlich zu hören. »Zwischen der Zisterne und dem Boden der Hagia Sophia müssen sich Räume befinden und die Säule überträgt den Klang. Graf Gregorio ist ganz in der Nähe!«, wisperte Yasha aufgeregt und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er musste sofort zurück in den versunkenen Palast, um dort nach den geheimnisvollen Räumen zu suchen.
Oben in
der Hagia Sophia
zählte er die Säulen, die zwischen der schwitzenden Säule und der Tür zu dem Verbindungsgang standen. Es waren 18 Stück. Dann eilte Yasha durch den langen Gang zu seinem Boot. Plötzlich zuckte er zusammen und blieb stehen. In der Ferne war, wie aus dem Nichts, eine hochgewachsene Gestalt aufgetaucht und wartete nun bewegungslos auf ihn. »Zürban«, schoss es Yasha durch den Kopf und er fasste nach dem Talisman, aber der zeigte keine warnende Reaktion. Es dauerte eine Weile, bis Yashas Knie aufhörten zu zittern. »Ich kann, ich kann, ich kann und ich will, ich will, ich will«, machte er sich Mut und ging weiter. Als er die unheimliche Gestalt erreichte, war es ihm fast ein bisschen peinlich. Es war nur der Blinde, der aus seiner Seitennische neben der Tür gekommen war, um Yasha die Tür zum versunkenen Palast zu öffnen. Erleichtert gab der Junge ihm ein Almosen.
Es hallte laut, als sich die Tür hinter ihm schloss. Yasha kletterte in das schaukelnde Boot und zählte die Säulen, an denen er vorbeiruderte. Bei Nummer 18 hielt er an. Der Raum, aus dem er die kleine Geige hörte, musste direkt über ihm liegen. Langsam umkreiste er die Säule mit dem Boot. Doch er fand nicht die Spur einer Tür oder eines Aufstiegs. Der Stein war viel zu glatt, um daran hochzuklettern. Hatte er sich verzählt? Suchte er an der falschen Säule? So laut Yasha konnte, rief er: »Graf Gregorio! Graf Gregoooriooo!« Es hallte unheimlich! Leise plätschernd ruderte Yasha zur nächsten Säule. Plötzlich erregte ein weißes Licht, das über dem Wasser zu schweben schien, seine Aufmerksamkeit. Es kam direkt auf Yasha zu.
Eine kleine
leuchtende Gestalt
verbeugte sich. Sie war ganz in Weiß gekleidet und verschleiert. »Ich bin die Wächterin des versunkenen Palastes!«, sprach sie mit singender Stimme. »Ich weiß, was du suchst. Folge mir, wenn dein Mut wirklich groß genug ist, um dich Abdul Khemir in den Weg zu stellen und deinen Freund zu befreien!« Dann schwebte das Wesen zu einer Säule, an der kleine Eisenstufen in die Höhe führten. »Mach dein Boot hier fest! Besteige die Säule! Oben findest du einen großen eisernen Ring, drehe ihn nach rechts, dann öffnet sich die Pforte von Zirla Vui, wenn du wirklich dahin willst. Denn sei gewarnt:
Viele, die nach Zirla Vui ins Reich
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