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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Gesicht des Jungen war ihm zugewandt, als wäre dies die wichtigste Frage seit dem Sturz Nixons oder vielleicht der Affäre in der Schweinebucht, und alle Instinkte Buddys wollten ihm beipflichten – es drängte ihn, jeder im Grunde gutherzigen Ansicht beizupflichten, die ein Junge äußerte, der so offensichtlich nach Farmarbeit roch. »Wahrscheinlich hat das wie alle Dinge zwei Seiten, wenn man es bei Licht betrachtet«, sagte Buddy Parkins, nicht sehr glücklich. Der Junge blinzelte und wandte sich dann ab, um wieder nach vorn zu blicken. Wieder spürte Buddy seinen Kummer, die Wolke aus Sorgen, die über dem Jungen zu hängen schien, und bedauerte fast, dass er Lewis Fairen die Bestätigung verweigert hatte, die er zu brauchen schien.
    »Deine Tante unterrichtet wohl in der Grundschule in Buckeye Lake?« sagte Buddy in der schwachen Hoffnung, den Jungen ein wenig von seinem Jammer abzulenken. Von der Zukunft sprechen, nicht von der Vergangenheit.
    »Ja, Sir, so ist es. Sie unterrichtet in der Grundschule. Helen Vaughan.« Seine Miene veränderte sich nicht.
    Aber Buddy hatte es wieder gehört – er hielt sich nicht für Henry Higgins, den sprachkundigen Professor in dem Musical My Fair Lady, aber er war sich ganz sicher, dass dieser Lewis Farren nicht redete wie jemand, der in Ohio aufgewachsen war. Die Stimme des Jungen klang nicht richtig, zu gedrängt, die Betonungen stimmten nicht. Es war ganz und gar keine Ohio-Stimme. Vor allem war es keine ländliche Ohio-Stimme. Es war ein Akzent.
    Sollte es möglich sein, dass ein Junge aus Cambridge, Ohio, so sprechen lernte? Aus welchem verrückten Grund auch immer? Buddy hielt es für möglich.
    Auf der anderen Seite schien die Zeitung, die dieser Lewis Farren ständig unter den linken Ellenbogen gepresst hielt, Buddy Parkins tiefsten und schlimmsten Argwohn zu bestätigen – dass sein verwahrloster junger Mitfahrer ein Ausreißer war und jedes seiner Worte eine Lüge. Der Titel der Zeitung, für Buddy schon durch leichtes Kopfneigen erkennbar, war The Angola Herald. Es gab ein Angola in Afrika, wo eine Menge Engländer als Söldner gekämpft hatten, und es gab ein Angola im Staat New York – direkt am Eriesee. Vor kurzem hatte das Fernsehen etwas über Angola gebracht, aber er konnte sich nicht mehr genau erinnern, um was es da gegangen war.
    »Ich würde dich gern etwas fragen, Lewis«, sagte er und räusperte sich.
    »Ja?« sagte der Junge.
    »Wie kommt es, dass ein Junge aus einem netten Städtchen an der U. S. Vierzig eine Zeitung aus Angola, New York, mit sich herumträgt? Das ist ein verdammtes Ende weit weg. Ich bin nur neugierig, mein Sohn.«
    Der Junge warf einen Blick auf die unter seinem Arm klemmende Zeitung und drückte sie noch fester an sich, als befürchtete er, sie könnte herunterrutschen. »Oh«, sagte er. »Die habe ich gefunden.«
    »Das glaubst du doch selber nicht«, sagte Buddy.
    »Doch, Sir. Sie lag auf einer Bank an der Busstation zu Hause.«
    »Du bist heute Morgen zur Busstation gegangen?«
    »Ja, aber dann beschloss ich, das Geld zu sparen und per Anhalter zu fahren. Mr. Parkins, wenn Sie mich an der Ausfahrt Zanesville absetzen, habe ich es nicht mehr weit. Dann wäre ich wahrscheinlich zum Abendessen bei meiner Tante.«
    »Ja, das wäre möglich«, sagte Buddy und legte mehrere Kilometer in unbehaglichem Schweigen zurück. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und sagte, sehr leise und ohne den Blick von der Straße abzuwenden: »Junge, bist du von Zuhause ausgerissen?«
    Lewis Farren erstaunte ihn durch ein Lächeln – weder grinste er, noch setzte er ein Lächeln auf; er lächelte tatsächlich. Er hielt die Idee, er könnte von Zuhause ausgerissen sein, für spaßig. Sie amüsierte ihn. Einen Sekundenbruchteil, nachdem Buddy den Kopf gewendet hatte, warf ihm der Junge einen Blick zu, und ihre Augen begegneten sich.
    Eine Sekunde lang, vielleicht auch zwei oder drei – so lange dieser Augenblick dauerte –, sah Buddy Parkins, dass dieser ungewaschene Junge, der neben ihm saß, schön war. Er hätte es für unmöglich gehalten, dass er dieses Wort je auf ein männliches Wesen anwendete, das älter war als neun Monate, aber unter dem Straßenschmutz war dieser Lewis Farren schön. Sein Sinn für Humor hatte vorübergehend seine Sorgen verscheucht, und was von ihm zu Buddy ausstrahlte – der zweiundfünfzig Jahre alt war und drei halbwüchsige Söhne hatte –, war eine Art freimütiger Güte, beeinträchtigt nur durch eine

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