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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Reihe ungewöhnlicher Erlebnisse. Dieser Lewis Farren, zwölf Jahre alt seinen eigenen Angaben zufolge, war irgendwie weitergegangen und hatte mehr gesehen als Buddy Parkins, und was er gesehen und getan hatte, hatte ihn schön werden lassen.
    »Nein, ich bin kein Ausreißer, Mr. Parkins«, sagte der Junge.
    Dann blinzelte er, und sein Blick wandte sich wieder nach innen und verlor sein Strahlen, und der Junge sank wieder auf seinem Sitz zusammen. Er zog ein Knie hoch, stützte es gegen das Armaturenbrett und hielt die Zeitung unter seinem Bizeps.
    »Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte Buddy Parkins und richtete den Blick wieder auf den Highway. »Ein Ausreißer bist du wohl nicht, Lewis. Aber irgendetwas bist du.«
    Der Junge reagierte nicht.
    »Hast auf einer Farm gearbeitet, stimmt’s?«
    Lewis schaute ihn überrascht an. »Ja, das habe ich. Die letzten drei Tage. Für zwei Dollar die Stunde.«
    Und deine Mommy ist so krank, dass sie nicht einmal deine Hose waschen konnte, bevor sie dich zu ihrer Schwester schickte, ist es so? dachte Buddy, aber was er sagte, war: »Lewis, was hältst du davon, mit zu mir nach Hause zu kommen? Ich behaupte nicht, dass du vor irgend etwas ausreißt, aber wenn du von irgendwo aus der Nähe von Cambridge stammst, dann fresse ich diesen ramponierten alten Wagen mitsamt den Reifen, und ich habe selbst drei Söhne, und der jüngste, Billy, ist nur rund drei Jahre älter als du, und wir wissen, wie man Jungen füttern muss. Du kannst bleiben, so lange du möchtest, je nachdem, wie viele Fragen du beantworten willst. Weil ich nämlich Fragen stellen werde, jedenfalls sobald wir das erste Mal Brot miteinander gebrochen haben.«
    Er fuhr sich mit einer Hand über das kurze graue Haar und warf einen Blick auf den Beifahrersitz. Lewis Farren sah mehr wie ein Junge aus und weniger wie eine Offenbarung. »Du wärst uns willkommen, mein Sohn.«
    Lächelnd sagte der Junge: »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Mr. Parkins, aber ich kann nicht. Ich muss zu meiner – äh, Tante, in …«
    »Buckeye Lake«, ergänzte Buddy.
    Der Junge schluckte und blickte wieder geradeaus.
    »Ich helfe dir gern, wenn du Hilfe brauchst«, wiederholte Buddy.
    Lewis legte die Hand auf seinen dicken, sonnenverbrannten Unterarm. »Dass Sie mich mitgenommen haben, ist schon eine große Hilfe, ehrlich.«
    Zehn schweigsame Minuten später sah er der einsamen Gestalt des Jungen nach, der auf der Ausfahrt vor Zanesville dahintrabte. Emmie wäre wahrscheinlich über ihn hergefallen, wenn er mit einem fremden, schmutzigen Jungen angekommen wäre, den sie füttern sollte, aber sobald sie ihn gesehen und sich mit ihm unterhalten hätte, hätte sie die guten Gläser und das Geschirr herausgeholt, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Buddy Parkins glaubte nicht, dass es in Buckeye Lake eine Frau mit Namen Helen Vaughan gab, und er war auch nicht sicher, ob dieser mysteriöse Lewis Farren überhaupt eine Mutter hatte – der Junge machte zu sehr den Eindruck eines Waisenkindes, unterwegs mit einem gewaltigen Auftrag. Buddy sah dem Jungen nach, bis er um eine Kurve der Ausfahrt verschwand, und dann starrte er ins Leere und auf das riesige gelb-purpurne Schild eines Einkaufszentrums. Eine Sekunde lang dachte er daran, aus dem Wagen zu springen und hinter dem Jungen herzulaufen, zu versuchen, ihn zurückzuholen … und dann stand ihm ganz kurz eine chaotische, raucherfüllte Szene in den Sechs-Uhr-Nachrichten vor Augen. Angola, New York. Irgendeine Katastrophe, zu geringfügig, um mehr als einmal berichtet zu werden, eine jener kleinen Tragödien, die die Welt unter einem Berg von Nachrichten begräbt. Alles, was Buddy sich in diesem kurzen Moment vermutlich entstellter Erinnerung vor Augen rufen konnte, war das Bild von Trägern, die wie riesige Strohhalme über zerschmetterten Autos lagen und aufragten aus einem rauchenden Loch im Boden – einem Loch, das geradewegs in die Hölle führen mochte. Buddy Parkins warf noch einen letzten Blick auf die leere Stelle der Straße, wo er den Jungen zuletzt gesehen hatte; dann trat er aufs Gaspedal und setzte den alten Wagen in Bewegung.
     
    3
     
    Buddy Parkins Erinnerung war exakter, als er vermutet hätte. Wenn er die Titelseite des etliche Tage alten Angola Herald hätte sehen können, den dieser merkwürdige Junge so schützend und angstvoll zugleich unter dem Arm gehalten hatte, dann hätte er lesen können:
     
    FÜNF TOTE DURCH ZUFALLSERDBEBEN
    von Herald-Reporter Joseph

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