Der Talisman
Schwelle nieder und streckte Jack die Hand entgegen, ohne den Jungen auch nur anzusehen. Jack ergriff Wolfs Hand. Es war, als hielte man ein haariges Geschöpf, das ungefähr so groß war wie ein Kaninchen. Wolf drückte so fest zu, dass Jack beinahe aufgeschrien hätte – aber wenn er es getan hätte, hätte Wolf es vermutlich überhaupt nicht gehört. Wolf starrte wieder himmelwärts, mit träumerischem, friedvollem und hingerissenem Gesicht. Nach ein oder zwei Sekunden gelang es Jack, seine Hand in Wolfs Griff in eine bequemere Position zu bringen.
»Bleiben wir lange so sitzen?« fragte er.
Es verging fast eine Minute, bevor Wolf antwortete. »Bis es so weit ist«, sagte er und drückte wieder Jacks Hand.
9
So saßen sie da, zu beiden Seiten des Türrahmens, stundenlang, wortlos, bis endlich das Tageslicht zu verblassen begann. In den letzten zwanzig Minuten hatte Wolf fast unmerklich gezittert, und als die Luft dunkler wurde, verstärkte sich das Zittern seiner Hand. So, dachte Jack, mochte ein Vollblutpferd vor Beginn eines Rennens zittern, wenn es darauf wartete, dass der Startschuss abgefeuert wurde und das Tor aufflog.
»Er fängt an, mich mitzunehmen«, sagte Wolf leise. »Bald rennen wir gemeinsam, Jacky. Ich wollte, du könntest auch mitkommen.«
Er drehte den Kopf, um Jack anzusehen, und der Junge stellte fest, dass es Wolf zwar ernst war mit dem, was er eben gesagt hatte, ein nicht unwesentlicher Teil von ihm aber wortlos erklärte: Und dann könnte es sein, dass ich nicht nur neben dir renne, sondern auch Jagd auf dich mache, kleiner Freund.
»Dann müssen wir jetzt wohl die Tür schließen«, sagte Jack. Er versuchte, seine Hand aus Wolfs Griff zu befreien, aber er konnte es nicht, bis Wolf ihn fast verächtlich freigab.
»Jack einschließen, Wolf ausschließen.« Wolfs Augen funkelten kurz auf, wurden zu rotglühenden Elroy-Augen.
»Denke daran, du musst dafür sorgen, dass der Herde nichts passiert«, sagte Jack. Er wich in die Mitte des Schuppens zurück.
»Die Herde geht in die Scheune. Das Schloss kommt an die Tür.« Wolfs Augen hörten auf, Feuer zu sprühen, verblassten zu Orange.
»Häng das Schloss vor die Tür.«
»Gott hämmre es, genau das tue ich jetzt«, sagte Wolf. »Ich hänge das gottverhämmerte Schloss vor die gottverhämmerte Tür, siehst du?« Er schlug die Tür zu, und sofort war Jack von Dunkelheit umgeben. »Hörst du das, Jacky? Das ist das gottverhämmerte Schloss.« Jack hörte, wie das Schloss gegen die Metallöse klickte, dann hörte er, wie das Sperrwerk fasste, als Wolf es schloss.
»Jetzt den Schlüssel«, sagte Jack.
»Den gottverhämmerten Schlüssel, gleich hier und jetzt«, sagte Wolf, und ein Schlüssel klapperte ins Schloss und wieder heraus. Eine Sekunde später prallte der Schlüssel so hoch vom staubigen Boden unter der Tür ab, dass er über die Dielenbretter des Schuppens rutschte.
»Danke«, hauchte Jack. Er bückte sich und ließ die Finger über die Dielen gleiten, bis er den Schlüssel berührte. Einen Augenblick umklammerte er ihn so fest, dass er fast die Haut durchdrang – die Druckstelle blieb fast fünf Tage sichtbar, bis er in der Aufregung über ihre Verhaftung nicht mehr zur Kenntnis nahm, dass sie verschwunden war. Dann verstaute Jack den Schlüssel sorgsam in seiner Tasche. Draußen keuchte Wolf in regelmäßigen, erregt klingenden Stößen.
»Bist du böse auf mich, Wolf?« flüsterte er durch die Tür.
Eine Faust schlug gegen die Tür, heftig. »Nein! Nicht böse! Wolf!«
»Gut«, sagte Jack. »Keine Leute, Wolf. Denk daran. Sonst machen sie Jagd auf dich und töten dich.«
»Keine Leute – OOOOOWWWWW-OOOOOHHHHHOOOO!« Das Wort ging in ein langes, durchdringendes Geheul über. Wolfs Körper prallte gegen die Tür, und seine großen, schwarz behaarten Füße glitten in den Spalt unter ihr. Jack wusste, dass Wolf sich von außen an die Tür drückte. »Nicht böse, Jack«, flüsterte Wolf, als schämte er sich seines Geheuls. »Wolf ist nicht böse. Nur voll Verlangen, Jacky. Bald ist es so weit, so gottverhämmert bald.«
»Ich weiß«, sagte Jack, und plötzlich war ihm zumute, als müsste er weinen – er wünschte sich, Wolf in die Arme schließen zu können. Aber noch intensiver wünschte er sich, dass sie die dazwischenliegenden Tage in dem Farmhaus verbracht hätten und dass er jetzt vor einem Rübenkeller stünde, in dem Wolf sicher gefangensaß.
Wieder kam ihm der seltsame, bestürzende Gedanke, dass
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