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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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der Größe eines Häuserblocks befanden.
    Aber zweimal stellte Wolf fest, dass es ihm auf geheimnisvolle Weise verboten war, seine Beute zu töten, und auch das trug dazu bei, dass er sich in der Welt, die er durchstreifte, heimisch fühlte. Es war eine Sache des Ortes, nicht irgendwelcher moralischer Bedenken – äußerlich gesehen unterschieden sich die Orte in nichts von anderen. Der eine war eine Lichtung im Wald, auf die er ein Kaninchen gejagt hatte, der andere der schäbige Hinterhof eines Farmhauses, auf dem ein wimmernder Hund an einen Pfosten angekettet lag. In dem Augenblick, in dem er eine Pfote auf diese Orte setzte, sträubten sich seine Nackenhaare, und ein elektrisches Kribbeln wanderte sein ganzes Rückgrat entlang. Es waren heilige Orte, und an einem heiligen Ort durfte Wolf nicht töten. Das war alles.
    Wie alle geheiligten Orte waren auch diese vor langer Zeit ausgesondert worden – in grauer Vorzeit, wie man diese ungeheure Spanne vielleicht beschreiben könnte, die Wolf im Hinterhof der Farmers und auf der kleinen Lichtung wahrnahm, eine dichte Masse von Jahren, zusammengedrängt auf einen kleinen, bedeutungsschweren Ort. Wolf wich einfach vor dem heiligen Grund zurück und begab sich woanders hin. Wie die geflügelten Männer, die Jack gesehen hatte, lebte auch Wolf unter dem Schleier eines Geheimnisses, und Dinge dieser Art bereiteten ihm kein Unbehagen.
    Und er vergaß seine Verpflichtungen gegenüber Jack Sawyer nicht.
     
    11
     
    In dem verschlossenen Schuppen fand sich Jack stärker auf das zurückgeworfen, was in seinem eigenen Verstand und Charakter enthalten war, als je zuvor in seinem Leben.
    Das einzige Möbelstück in dem Schuppen war die kleine Holzbank, die einzige Zerstreuung die rund zehn Jahre alten Zeitschriften. Und die konnte er nicht lesen. Weil der Raum fensterlos war, hatte er – die frühen Morgenstunden ausgenommen, in denen das Licht durch den Spalt unter der Tür einfiel – Mühe, die Bilder auf den Seiten zu erkennen. Die Texte waren Ströme aus grauen Würmern, nicht zu entziffern. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er die nächsten drei Tage durchstehen sollte. Jack bewegte sich auf die Bank zu, schlug schmerzhaft mit dem Knie dagegen und setzte sich hin, um nachzudenken.
    Eines der ersten Dinge, die er begriff, war die Tatsache, dass sich die Schuppen-Zeit von der Zeit draußen unterschied. Außerhalb des Schuppens marschierten die Sekunden rasch vorüber, verschmolzen zu Minuten, und die Minuten verschmolzen zu Stunden. Ganze Tage tickten vorbei wie Metronome, ganze Wochen. In der Schuppen-Zeit dagegen weigerten sich die Sekunden beharrlich, sich zu bewegen – sie dehnten sich zu grotesken Monstersekunden, zu Sekunden aus dehnbarer Plastikmasse. Draußen mochte eine Stunde vergehen, während im Schuppen vier oder fünf Sekunden anschwollen und sich aufblähten.
    Das zweite, das Jack begriff, war die Tatsache, dass das Nachdenken über das langsame Vergehen der Zeit alles noch schlimmer machte. Sobald man anfing, sich auf das Vergehen der Sekunden zu konzentrieren, verweigerten sie erst recht die Bewegung. Also versuchte er, die Maße seiner Zelle abzuschreiten, nur um seine Gedanken von der Ewigkeit an Sekunden abzulenken, aus denen sich drei Tage zusammensetzten. Indem er einen Fuß vor den anderen setzte und seine Schritte zählte, fand er heraus, dass der Schuppen ungefähr zwei Meter zehn mal zwei Meter siebzig groß war. Also hatte er zumindest genügend Platz, um sich in der Nacht auszustrecken.
    Wenn er einmal die Runde an den Wänden des Schuppens machte, würde er neun Meter sechzig zurücklegen.
    Wenn er die gleiche Runde einhundertviermal machte, hätte er einen Kilometer zurückgelegt.
    Er würde zwar nicht essen können, aber er konnte laufen. Jack nahm seine Uhr ab und steckte sie in die Tasche, wobei er sich versprach, nur darauf zu schauen, wenn es unbedingt sein musste.
    Er hatte ungefähr die Hälfte seines ersten Kilometers zurückgelegt, als ihm einfiel, dass er im Schuppen kein Wasser hatte. Nichts zu essen und kein Wasser. Wahrscheinlich dauerte es länger als drei oder vier Tage, bis man verdurstete. Solange Wolf zu ihm zurückkehrte, konnte ihm nichts passieren – vielleicht ging es ihm schlecht, aber er würde am Leben bleiben. Und wenn Wolf nicht zurückkehrte? Dann würde er die Tür aufbrechen müssen.
    Für alle Fälle, dachte er, wollte er es lieber gleich probieren, solange er noch Kraft genug hatte.
    Jack ging zur Tür und

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