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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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drückte mit beiden Händen dagegen. Er drückte kräftiger, und die Scharniere quietschten. Versuchsweise warf Jack seine Schulter gegen die den Scharnieren gegenüberliegende Türkante. Er spürte seine Schulter, aber die Tür rührte sich nicht. Er hieb die Schulter kräftiger gegen die Tür. Die Scharniere quietschten, rührten sich aber keinen Millimeter. Wolf hätte die Tür mit einer Hand aus dem Rahmen reißen können, aber Jack wusste, dass er sie selbst dann nicht bewegen konnte, wenn er gegen sie anrannte, bis sich seine Schultern in Hamburger verwandelt hatten. Ihm blieb nichts übrig, als auf Wolf zu warten.
     
    Um die Mitte der Nacht war Jack zehn oder zwölf Kilometer gelaufen – er hatte die Übersicht verloren, wie oft er einhundertvier Runden gedreht hatte, aber es musste an die zehn- oder zwölfmal gewesen sein. Er war ausgedörrt, und sein Magen knurrte. Der Schuppen stank nach Urin, denn Jack war gezwungen gewesen, seine Blase an der hinteren Wand zu entleeren, wo ein Spalt zwischen den Brettern dafür sorgte, dass wenigstens etwas davon nach draußen gelangte. Er war erschöpft, aber er glaubte nicht, dass er schlafen konnte. Der Uhr zufolge befand er sich knapp fünf Stunden im Schuppen; nach Schuppen-Zeit waren es an die vierundzwanzig. Er scheute davor zurück, sich hinzulegen.
    Sein Kopf würde keine Ruhe geben – da war er ganz sicher. Er hatte versucht, Listen anzufertigen von allen Büchern, die er im letzten Jahr gelesen hatte, von allen Lehrern, die er gehabt hatte, von allen Spielern der Los Angeles Dodgers – aber immer wieder brachen wirre, beunruhigende Bilder ein. Er sah, wie Morgan Sloat ein Loch in die Luft riss. Wolfs Gesicht trieb unter Wasser, und seine Hände sanken herab wie schwerer Tang. Jerry Bledsoe zuckte und schwankte vor der Schalttafel mit auf der Nase geschmolzener Brille. Die Augen eines Mannes wurden gelb, und seine Hand wurde zu einer Klaue. Onkel Tommys Gebiss blinkte im Rinnstein des La Cienega Boulevards. Morgan Sloat kam auf ihn zu, sein kahler Schädel überzog sich plötzlich mit schwarzen Haaren – aber dann kam Onkel Morgan auf seine Mutter zu, nicht auf ihn.
    »Lieder von Fats Waller«, sagte er und versuchte, seine Gedanken im Dunkeln in eine andere Bahn zu lenken. »›Your Feets Too Big.‹ ›Ain’t Misbehavin.‹ ›Jitterbug Waltz.‹ ›Keepin Out of Mischief Now.‹
    Das Elroy-Ding griff nach seiner Mutter, obszön flüsternd, umklammerte ihre Hüfte.
    »Länder Mittelamerikas. Nicaragua. Honduras. Guatemala. Costa Rica …«
    Selbst als er so müde war, dass er sich schließlich doch hinlegen und auf dem Fußboden zusammenrollen musste, den Rucksack als Kissen unter dem Kopf, wüteten Elroy und Morgan Sloat in seinem Kopf. Osmond ließ seine Peitsche auf Lily Cavanaughs Rücken klatschen, und seine Augen tanzten. Wolf richtete sich auf, massig, ganz und gar unmenschlich, und wurde von einer Gewehrkugel mitten ins Herz getroffen.
    Das erste Licht weckte ihn, und er roch Blut. Sein Körper verlangte nach Wasser, dann nach Nahrung. Jack stöhnte. Noch drei solche Nächte würde er nicht überleben. Im flach einfallenden Sonnenlicht konnte er undeutlich die Wände und das Dach des Schuppens ausmachen. Er sah größer aus, als es am Abend den Anschein gehabt hatte. Er musste wieder urinieren, obwohl er kaum glaubte, dass sein Körper noch irgendwelche Flüssigkeit entbehren konnte. Schließlich begriff er, dass ihm der Schuppen größer vorkam, weil er auf dem Fußboden lag.
    Dann roch er wieder Blut und drehte den Kopf zur Tür hin. Die abgehäuteten Keulen eines Kaninchens waren durch den Spalt hindurchgeschoben worden. Sie lagen auf den rauen Dielenbrettern, und Blut sickerte aus ihnen heraus. An ihnen klebende Erde und eine lange Schleifspur ließen erkennen, dass einige Kraft erforderlich gewesen war, um sie in den Schuppen zu befördern. Wolf versuchte, ihm etwas zu essen zu bringen.
    »Heiliger Strohsack!« stöhnte Jack. Die gehäuteten Keulen des Kaninchens hatten etwas bestürzend Menschenähnliches. Jacks Magen krampfte sich zusammen. Aber anstatt sich zu übergeben, lachte er, weil sich ihm ein verrückter Vergleich aufdrängte. Wolf glich dem Hauskater, der seiner Familie jeden Morgen einen toten Vogel, eine ausgeweidete Maus auf die Matte legt.
    Mit zwei Fingern ergriff Jack das grässliche Geschenk und legte es unter die Bank. Ihm war immer noch nach Lachen zumute, aber seine Augen waren nass. Wolf hatte die erste Nacht seiner

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