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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Wolf ohnehin sicher gefangensaß.
    Wolfs Füße glitten unter der Tür heraus, und Jack glaubte zu bemerken, dass sie kompakter, schlanker und schmaler wurden.
    Wolf knurrte, keuchte und knurrte wieder. Er hatte sich ein Stück von der Tür entfernt. Dann gab er ein Geräusch von sich, das ungefähr wie »Ahhh« klang.
    »Wolf?« sagte Jack.
    Ein ohrenzerreißendes Geheul drang von oben auf Jack ein: Wolf hatte den Rand der Mulde erreicht.
    »Sei vorsichtig«, sagte Jack, obwohl er wusste, dass Wolf ihn nicht hörte, und fürchtete, dass er die Warnung, selbst wenn er sie hätte hören können, nicht verstehen würde.
    Bald darauf hörte Jack Wolf noch mehrere Male heulen. Es waren die Laute eines freigelassenen Geschöpfes, vielleicht auch die Laute eines verzweifelten Wesens, das beim Erwachen feststellt, dass es noch immer eingesperrt ist – Jack wusste es nicht. Voller Trauer, unbezähmbar und von eigentümlicher Schönheit flogen die Schreie des armen Wolf in die mondhelle Luft, wie in die Nacht geschleuderte Tücher. Jack wusste nicht, dass er zitterte, bis er die Arme um den Körper schlang und spürte, wie sie an seinem Brustkorb bebten, der ebenfalls zu beben schien.
    Das Geheul wurde schwächer, verklang. Wolf rannte mit dem Mond.
     
    10
     
    Drei Tage und drei Nächte war Wolf fast ununterbrochen auf der Suche nach Nahrung. Von der Morgendämmerung bis kurz nach Mittag schlief er in einer Grube, die er unter dem umgestürzten Stamm einer Eiche entdeckt hatte. Wolf fühlte sich durchaus nicht eingesperrt, wie Jack befürchtet hatte. Der an das Feld angrenzende Wald war groß und wimmelte von der natürlichen Beute eines Wolfes. Mäuse, Kaninchen, Katzen, Hunde, Hörnchen – all das stöberte er mühelos auf. Er hätte sich auf den Wald beschränken und so viel fressen können, dass er bis zu seiner nächsten Verwandlung mehr als genug hatte.
    Aber Wolf rannte mit dem Mond, und er hätte sich ebenso wenig auf den Wald beschränken können, wie er imstande gewesen wäre, seiner Verwandlung Einhalt zu gebieten. Vom Mond geleitet, streifte er durch Höfe und über Weiden, an vereinzelten Vorstadthäusern vorbei und über Straßenbaustellen, auf denen Bulldozer und riesige asymmetrische Walzen wie schlafende Dinosaurier herumstanden. Die Hälfte seiner Intelligenz war in seinen Geruchssinn eingegangen, und es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, dass Wolfs immer schon feine Nase jetzt beinahe genial funktionierte. Er konnte nicht nur einen zehn Kilometer entfernten Stall voller Hühner riechen und ihren Geruch von denen der Kühe und Schweine und Pferde auf der gleichen Farm unterscheiden – das war relativ einfach –, er konnte auch riechen, wenn sich die Hühner bewegten. Er konnte riechen, dass eines der schlafenden Schweine einen verletzten Fuß hatte und eine der Kühe in der Scheune ein vereitertes Euter.
    Und diese Welt – denn war es nicht der Mond dieser Welt, der ihn führte? – stank nicht mehr nach Chemikalien und Tod. Bei seinen Wanderungen stieß er auf eine ältere, primitivere Seinsordnung. Er atmete ein, was von der ursprünglichen Süße und Macht der Erde übrig geblieben war, was von den Eigenschaften noch vorhanden war, die sie vielleicht einst mit der Region gemeinsam hatte. Selbst wenn er sich einer menschlichen Behausung näherte, selbst wenn er dem Familienköter das Rückgrat brach und den Hund in Fetzen riss, die er ganz hinunterschlang, war sich Wolf der kühlen, reinen Ströme tief unter der Erde bewusst, des strahlenden Schnees auf einem Berg irgendwo fern im Westen. Dies schien die ideale Umwelt zu sein für einen Wolf, der mit dem Mond rannte, und wenn er irgendein menschliches Wesen getötet hätte, wäre er verdammt gewesen.
    Er tötete keine Menschen.
    Er sah keine, und vielleicht tat er es deshalb nicht. Während der drei Tage seiner Verwandlung tötete und verschlang Wolf Angehörige fast aller anderen Arten von Lebewesen, die im Osten von Indiana anzutreffen sind, darunter einen Skunk und eine ganze Familie von Luchsen, die in Kalksteinhöhlen in der Flanke eines zwei Täler entfernten Hügels lebten. In seiner ersten Nacht im Wald fing er eine niedrig fliegende Fledermaus mit den Kiefern, biss ihr den Kopf ab und verschluckte den noch zuckenden Rest. Ganze Schwadronen von Hauskatzen wanderten durch seinen Schlund, ganze Regimenter von Hunden. Mit wilder, konzentrierter Begeisterung schlachtete er in einer Nacht alle Schweine hin, die sich in einem Pferch von

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