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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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einem Krater in der klumpigen Fleischmasse unter der Stirn. Er glich einer Murmel, die man tief in eine Pfütze aus halbgeschmolzenem Talg gedrückt hatte. Aus dem linken Mundwinkel ragte ein einziger, langer Reißzahn.
    Es ist sein Twinner, dachte Jack ohne den geringsten Zweifel. Das da unten ist Etheridges Twinner. Sind sie alle Twinner? Ein Littlefield-Twinner und ein Buckley-Twinner und so weiter und so weiter? Das kann doch nicht wahr sein, oder?
    »Sloat!« rief das Etheridge-Ding. Es tat zwei torkelnde Schritte auf Nelson House zu. Jetzt fiel das Licht der Straßenlaternen an der Auffahrt direkt auf sein zerstörtes Gesicht.
    »Mach das Fenster zu«, flüsterte Richard. »Mach das Fenster zu. Ich habe mich geirrt. Es sieht irgendwie aus wie Etheridge, aber er ist es nicht, vielleicht ist es sein älterer Bruder, vielleicht hat jemand Säure oder so etwas in das Gesicht von Etheridges Bruder geschüttet, und nun ist er verrückt, aber es ist nicht Etheridge, also mach das Fenster zu, Jack, mach es schnell …«
    Unter ihnen torkelte das Etheridge-Ding einen weiteren Schritt auf sie zu. Es grinste. Aus seinem Mund rollte eine grässlich lange Zunge heraus.
    »Sloat!« rief es. »Gib uns deinen Passagier!«
    Sowohl Jack als auch Richard fuhren herum und betrachteten einander mit angespannten Gesichtern.
    Ein Geheul bebte durch die Nacht – es war inzwischen Nacht geworden; das Zwielicht war vergangen.
    Richard sah Jack an, und einen Augenblick lang entdeckte Jack in den Augen des anderen Jungen so etwas wie Hass – einen Funken von seinem Vater. Warum musstest du hierherkommen, Jack? Warum? Warum musstest du mir dieses Chaos bescheren? Warum musstest du mir all diesen gottverdammten Seabrook Island-Kram aufhalsen?
    »Soll ich gehen?« fragte Jack leise.
    Der Ausdruck von Qual und Zorn blieb noch einen Augenblick in Richards Augen, dann kehrte die alte Freundschaft in sie zurück.
    »Nein«, sagte er und fuhr sich mit unsicheren Händen durchs Haar. »Nein, du gehst nirgendwohin. Das sind – das sind wilde Hunde da draußen. Wilde Hunde, Jack, auf dem Campus von Thayer! Ich meine – hast du sie gesehen?«
    »Ja, ich habe sie gesehen, Richieboy«, sagte Jack sanft, als sich Richard wieder mit den Händen durch sein bisher so ordentliches Haar fuhr und es noch gründlicher in Unordnung brachte.
    »Ich muss Boynton anrufen, er ist unser Wachmann; das muss ich tun«, sagte Richard. »Boynton anrufen oder die Polizei oder …«
    Ein Geheul brach unter den Bäumen am entgegengesetzten Ende des Hofes los, stieg aus den Schatten empor – ein anschwellendes, schwankendes Geheul, das fast etwas Menschliches an sich hatte. Richard blickte hinüber, sein Mund zitterte wie der eines gebrechlichen alten Menschen; dann sah er Jack flehend an.
    »Mach bitte das Fenster zu, Jack, ja? Mir ist fiebrig zumute. Ich glaube, mich hat’s erwischt.«
    »So ist es, Richard«, sagte Jack, schob das Fenster herunter und schloss das Geheul aus, soweit es sich ausschließen ließ.

 
Zweiunddreißigstes Kapitel
     
    »Schick deinen Passagier raus!«
     
    1
     
    »Fass mit an, Richard«, ächzte Jack.
    »Ich will nicht, dass der Schrank verschoben wird, Jack«, sagte Richard mit kindisch belehrender Stimme. Die dunklen Ringe unter seinen Augen traten jetzt deutlicher hervor als während ihres Aufenthalts im Gemeinschaftsraum. »Da gehört er nicht hin.«
    Draußen auf dem Hof schwoll das Geheul wieder an.
    Das Bett stand vor der Tür. Richards Zimmer war jetzt völlig auf den Kopf gestellt. Richard stand da und betrachtete blinzelnd das Chaos. Dann trat er an sein Bett und zog die Decken herunter. Wortlos reichte er Jack eine davon, die andere breitete er auf dem Fußboden aus. Er holte Kleingeld und Geldscheinetui aus seinen Taschen und legte sie ordentlich auf die Kommode. Dann legte er sich auf die Mitte seiner Decke, faltete beide Seiten über sich und lag dann nur da auf dem Fußboden, die Brille noch auf der Nase, ein Bild schweigenden Elends.
    Die Stille draußen war dicht und traumhaft, nur unterbrochen vom Dröhnen der Ferntransporter auf der Schnellstraße. In Nelson House selbst herrscht unnatürliche Ruhe.
    »Ich will nicht über das reden, was draußen vorgeht«, sagte Richard. »Ist das klar?«
    »Okay, Richard«, sagte Jack beruhigend. »Wir reden nicht darüber.«
    »Gute Nacht, Jack.«
    »Gute Nacht, Richie.«
    Richard bedachte ihn mit einem Lächeln, das matt war und entsetzlich erschöpft; dennoch lag noch genügend

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