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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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herumwandern, können schreckliche Dinge passieren.« Lily reagierte noch immer nicht. »Dinge, an die ich gar nicht denken mag.« Er erreichte das Fußende des Bettes und ging zur Badezimmertür. Lily lag unter den Laken und Decken wie ein zerknülltes Stück Seidenpapier. Sloat betrat das Badezimmer.
    Er rieb sich die Hände, schloss leise die Tür und drehte beide Hähne über dem Waschbecken auf. Aus der Manteltasche holte er ein kleines braunes Zweigramm-Fläschchen, aus der Innentasche seines Jacketts ein Kästchen, das einen Spiegel, eine Rasierklinge und ein kurzes Messingröhrchen enthielt. Auf den Spiegel schüttete er etwa ein Achtelgramm vom feinsten peruanischen Flockenkokain, das er hatte auftreiben können, zerkleinerte es mit der Rasierklinge und teilte es in zwei längliche Häufchen. Er schnupfte die Häufchen durch das Messingröhrchen auf, keuchte, atmete scharf ein und hielt ein oder zwei Sekunden den Atem an. »Aah.« Seine Atemwege öffneten sich so breit wie Tunnel. Ganz hinten begann ein Tropfen die Wohltat abzuliefern. Sloat hielt seine Hände unter den Wasserhahn und zog etwas von der an Daumen und Zeigefinger haftenden Feuchtigkeit in die Nasenlöcher. Er trocknete sich Gesicht und Hände ab.
    Dieser wunderbare Zug, gestattete er sich zu denken, dieser wunderbare, wunderbare Zug, ich glaube, ich bin stolzer auf ihn als auf meinen Sohn.
    Morgan Sloat schwelgte in der Vision seines kostbaren Zuges, der in beiden Welten der gleiche war: die erste konkrete Manifestation seines langgehegten Plans, moderne Technologie in die Region zu bringen. Er stellte sich vor, wie der Zug mit seiner nützlichen Fracht in Point Venuti eintraf. Point Venuti! Sloat lächelte, während der Koks durch sein Gehirn jagte und ihm die übliche Botschaft brachte, dass alles gut werden würde, alles gut werden würde. Der kleine Jacky Sawyer würde schon sehr viel Glück brauchen, wenn er Point Venuti wieder verlassen wollte.
    Und wenn man bedachte, dass sein Weg dorthin durch das Verheerte Land führte, würde er schon viel Glück brauchen, um überhaupt dorthin zu gelangen. Aber die Droge erinnerte Sloat daran, dass es ihm in mancher Hinsicht lieber war, wenn Jack es schaffte, das gefährliche, verderbte kleine Point Venuti zu erreichen, dass es ihm sogar lieber war, wenn Jack die Konfrontation mit dem schwarzen Hotel überlebte, das nicht nur Bretter und Nägel, Ziegel und Stein war, sondern auch irgendwie lebendig … weil es durchaus möglich war, dass er mit dem Talisman in seinen Diebsfingern wieder herauskam. Und wenn das geschah …
    Ja, wenn dieses wirklich wunderbare Ereignis eintrat, dann würde in der Tat alles gut werden.
    Und beide, Jack Sawyer und der Talisman, würden zerbrochen werden.
    Und er, Morgan Sloat, hätte endlich den Spielraum, den seine Talente verdienten. Eine Sekunde lang sah er sich selbst, die Arme über sternbesäte Weiten breitend, über Welten, die übereinander lagen wie Liebende in einem Bett, über alles, was der Talisman beschützte, über all das, was er so sehr begehrte, seit er vor vielen Jahren das Agincourt kaufte. All das konnte Jack ihm beschaffen. Süße. Glorie.
    Um diesen Gedanken zu feiern, holte Sloat das Fläschchen abermals aus der Tasche; er hielt sich nicht mit dem Ritual von Spiegel und Rasierklinge auf, sondern benutzte einfach den anhängenden kleinen Löffel, um das medizinisch weiße Pulver erst an das eine und dann an das andere Nasenloch zu bringen. Süße, in der Tat.
     
    Noch schnüffelnd kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Lily machte einen etwas lebhafteren Eindruck, aber seine Laune war jetzt so gut, dass nicht einmal dieses Anzeichen fortdauernden Lebens sie trüben konnte. Ihre Augen, glänzend und seltsam hohl in ihrem Knochenrahmen, folgten ihm. »Onkel Sloat hat sich ein neues Laster zugelegt«, sagte sie.
    »Und du stirbst«, sagte er. »Welches ist das kleinere Übel?«
    »Wenn du genug von dem Zeug nimmst, stirbst du auch.«
    Ohne sich von ihrer Feindseligkeit abschrecken zu lassen, kehrte Sloat zu dem klapprigen Holzstuhl zurück. »Um Himmels willen, Lily, werde endlich erwachsen«, sagte er. »Heutzutage schnupft doch jedermann. Du bist nicht auf dem Laufenden – schon seit Jahren nicht. Willst du etwas abhaben?« Er zog das Fläschchen aus der Tasche und ließ es an der Kette baumeln, an der der kleine Löffel befestigt war.
    »Scher dich raus.«
    Sloat brachte das Fläschchen dichter an ihr Gesicht heran.
    Lily fuhr mit der Schnelligkeit

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