Der Talisman
Lily
1
Als Speedys Laster von der Straße abgeschwenkt und unter dem Torbogen verschwunden war, machte sich Jack auf den Weg zum Hotel. Ein Talisman. In einem anderen Alhambra. Am Rande eines anderen Ozeans. Sein Herz kam ihm leer vor. Ohne Speedy neben sich erschien ihm die Aufgabe riesig, gewaltig; und unklar außerdem. Solange Speedy redete, hatte Jack geglaubt, diesen Wirrwarr von Andeutungen und Warnungen und Anweisungen fast zu verstehen. Aber die Region war wirklich. Er klammerte sich an diese Gewissheit, so gut er konnte; sie wärmte ihn und ließ ihn gleichzeitig frösteln. Es war ein wirkliches Land, und er würde dorthin zurückkehren. Auch wenn er noch nicht alles richtig begriffen hatte – auch wenn er ein unwissender Pilger war, er würde zurückkehren. Als erstes musste er jetzt versuchen, seine Mutter zu überzeugen. »Talisman«, sagte er zu sich selbst, nahm das Wort für den Gegenstand; dann überquerte er die leere Boardwalk Avenue und sprang die Stufen auf den Weg zwischen den Hecken hinauf. Als die große Tür aufschwang, überfiel ihn das Dunkel im Innern des Alhambra. Die Halle war eine lange Höhle – man hätte ein Feuer gebraucht, um nur die Schatten voneinander zu trennen. Der bleiche Tagesportier regte sich hinter dem langen Tresen und durchbohrte Jack mit seinen weißen Augen. Sie übermittelten eine Botschaft, jawohl. Jack schluckte und wandte sich ab. Die Botschaft machte ihn stärker und kräftiger, obwohl sie nichts als hämisch war.
Mit geradem Rücken und gemessenen Schritten ging er auf den Fahrstuhl zu. Treibst dich mit Schwarzen herum, ja? Lässt sie den Arm um dich legen, ja? Der Fahrstuhl kam heruntergeschwirrt wie ein großer, schwerer Vogel; die Türen glitten auseinander, und Jack trat hinein. Er drückte auf den mit einer leuchtenden 4 bezeichneten Knopf. Der Portier stand noch immer wie ein Gespenst hinter seinem Tresen und übermittelte seine Dumdum-Botschaft. Niggerlover Niggerlover Niggerlover (so hast du’s gern, du Balg, ja? Heiß und schwarz, so liebst du’s, ja?). Dann schlossen sich gnädig die Türen. Jacks Magen sackte ein Stück tiefer, der Fahrstuhl rumpelte aufwärts.
Der Hass blieb in der Halle zurück; sogar die Luft im Fahrstuhl fühlte sich besser an, nachdem er den ersten Stock erreicht hatte. Nun brauchte Jack nur noch seiner Mutter beizubringen, dass er ganz allein nach Kalifornien zurückkehren musste.
Lass bloß nicht zu, dass Onkel Morgan irgendwelche Papiere für dich unterschreibt …
Als Jack den Fahrstuhl verließ, fragte er sich zum ersten Mal in seinem Leben, ob Richard Sloat wohl ahnte, was für ein Mensch sein Vater in Wirklichkeit war.
2
Die Tür von Zimmer 408 am Ende des Korridors mit den leeren Wandlampen und den Bildern, auf denen kleine Boote auf einem schaumigen, geriffelten Meer tanzten, stand einen Spaltbreit offen und ließ einen Streifen blassen Teppich in der Suite erkennen. Der durch die Wohnzimmerfenster einfallende Sonnenschein zeichnete ein langes Rechteck an die Innenwand. »He, Mom«, sagte Jack beim Eintreten. »Du hast die Tür offengelassen, was soll …« Er war allein im Zimmer. »… das bedeuten?« sagte er zu den Möbeln. Es war, als wäre Unordnung in das aufgeräumte Zimmer eingesickert – ein überquellender Aschenbecher, ein halbvolles Glas Wasser auf dem Couchtisch.
Diesmal, versprach sich Jack, würde er nicht in Panik geraten.
Er drehte sich langsam im Kreis. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand offen; der Raum war so dunkel wie die Halle, weil Lily die Vorhänge nicht aufgezogen hatte.
»He, ich weiß doch, dass du da bist«, sagte er und durchquerte ihr leeres Schlafzimmer, um an die Badezimmertür zu klopfen. Keine Antwort. Jack öffnete die Tür und sah eine rosa Zahnbürste auf dem Waschbeckenrand, eine einsame Haarbürste auf dem Bord darüber. In den Borsten hingen helle Haare. Laura DeLoessian verkündete eine Stimme in Jacks Kopf, und er trat rückwärts aus dem kleinen Badezimmer heraus – der Name hatte ihn getroffen.
»Oh, nicht schon wieder«, sagte er zu sich selbst. »Wo steckt sie bloß?«
Er sah es, als er in sein eigenes Schlafzimmer trat, sah es, als er die Tür öffnete und den Blick über das ungemachte Bett gleiten ließ, den zusammengelegten Rucksack und den kleinen Stapel Taschenbücher, die zusammengesteckten Socken auf der Kommode. Er sah es, als er in sein eigenes Badezimmer blickte, wo Handtücher in buntem Durcheinander auf dem Fußboden, dem
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