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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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läuten begannen, blickten alle auf. Einige lachten, einige runzelten die Stirn, ein paar brachen in Tränen aus. Irgendwo heulten Hunde, und das war merkwürdig – Hunde waren auf dem Campus nicht erlaubt.
    Die Melodie, die die Glocken spielten, war nicht einprogrammiert – der verärgerte Hausmeister stellte es später fest. In der nächsten Ausgabe der Schülerzeitung äußerte ein Spaßvogel die Vermutung, jemand habe sich eingeschlichen und die Melodie in Vorfreude auf die Weihnachtsferien einprogrammiert.
    Es war die Melodie von »Happy Days Are Here Again«.
     
    8
     
    Obwohl die Mutter von Jacks Wolf geglaubt hatte, sie wäre zu alt, um noch einmal schwanger zu werden, war zur Zeit der Veränderung vor ungefähr zehn Monaten ihre Blutung ausgeblieben. Vor einem Monat hatte sie Drillinge zur Welt gebracht – zwei Wurfschwestern und einen Wurfbruder. Es war eine schwere Geburt gewesen, und die Vorahnung, dass eines ihrer älteren Kinder dem Tode nahe war, hatte auf ihr gelastet.
    Dieses Kind, das wusste sie, war in das Andere Land gegangen, um die Herde zu beschützen, und es würde im Anderen Land sterben, und sie würde es nie wieder sehen. Das bedrückte sie, und es war nicht nur die schwere Geburt, die sie zum Weinen brachte.
    Doch jetzt, als sie unter einem vollen Mond schlief, ihre Jungen neben sich, alle in sicherer Entfernung von der Herde, drehte sie sich mit einem Lächeln um, zog den jüngsten Wurfbruder an sich und begann, ihn zu lecken. Noch im Schlaf legte das Wölfchen die Pfoten um den zottigen Hals seiner Mutter und drückte die Wange an ihre weich behaarte Brust, und dann lächelten beide. Im Schlaf der Veränderung regte sich ein menschlicher Gedanke: Gott hämmert seine Nägel gut und gerade. Und der Mond dieser wunderbaren Welt, in der alle Gerüche gut waren, schien auf sie herab, während sie eng umarmt schliefen und die Wurfschwestern dicht daneben.
     
    9
     
    In dem Städtchen Goslin, Ohio (in der Nähe von Amanda und etwa fünfzig Kilometer südlich von Columbus) schaufelte ein Mann namens Buddy Parkins kurz vor Anbruch der Dämmerung Mist aus einem Hühnerstall. Er hatte eine Mullmaske umgebunden, um Mund und Nase vor der erstickenden weißen Guanowolke zu schützen, die beim Arbeiten aufstieg. Die Luft stank nach Ammoniak. Er hatte Kopfschmerzen von dem Gestank. Außerdem hatte er Rückenschmerzen, weil er groß war und der Hühnerstall nicht. Alles in allem war es so ziemlich die widerwärtigste Arbeit, die er sich vorstellen konnte. Er hatte drei Söhne, und keiner der verdammten Bengel war jemals da, wenn der Hühnerstall ausgemistet werden musste. Das einzig Gute war, dass er es bald geschafft hatte, und …
    Der Junge! Herr im Himmel, der Junge!
    Plötzlich erinnerte er sich ganz deutlich und mit einer Art unbewußter Liebe an den Jungen, der sich Lewis Farren genannt hatte. Den Jungen, der behauptet hatte, er wäre auf dem Weg zu seiner Tante Helen Vaughan in Buckeye Lake; den Jungen, der sich zu Buddy umgedreht hatte, als Buddy ihn fragte, ob er von Zuhause ausgerissen wäre, und ihm dabei ein Gesicht zugewendet hatte, in dem aufrichtige Güte lag und Schönheit, die Buddy an Regenbogen nach einem Gewitter denken ließ, an Sonnenuntergänge am Ende von Tagen voller Plackerei und gut getaner Arbeit.
    Er richtete sich verblüfft auf und stieß mit dem Kopf so hart gegen einen Balken des Hühnerstalls, dass ihm Tränen in die Augen traten – doch gleichzeitig lächelte er, ohne zu wissen, warum. Oh, mein Gott, der
    Junge ist DA, er ist DA, dachte Buddy Parkins, und obwohl er keine Ahnung hatte, wo »da« war, überwältigte ihn plötzlich die Vorstellung eines grandiosen Abenteuers; seit er mit zwölf die Schatzinsel gelesen und mit vierzehn das erste Mal die Brust eines Mädchens umfasst hatte, war er nicht mehr so hingerissen, so begeistert gewesen. Er begann zu lachen. Er ließ seine Schaufel fallen, und während ihn die Hühner fassungslos anstarrten, tanzte Buddy Parkins im Hühnermist herum, lachte hinter seiner Maske und schnippte mit den Fingern.
    »Er ist da!« rief Buddy Parkins lachend den Hühnern zu. »Heigh-ho, er ist da, er hat es endlich geschafft, er ist da, und er hat ihn!«
    Später glaubte er fast – aber nicht ganz –, der Gestank des Hühnermistes müsste ihn irgendwie high gemacht haben. Aber das war es nicht allein, verdammt noch mal, das war es nicht allein. Er hatte eine Art Offenbarung gehabt, obwohl er nicht mehr wusste, was es gewesen war –

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