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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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bellen – es war das dunkle Gebell eines großen Tieres –, und Jack blieb einen Augenblick wie gebannt stehen.
    Drinnen, dachte er. Oder angekettet. Ich hoffe es.
    Er hielt sich nach rechts, und nach einer Weile hörte das Gebell auf. Er benutzte die Lichter der Farm als Anhaltspunkt und erreichte wenig später eine schmale, asphaltierte Straße. Dort blieb er stehen, blickte nach rechts und nach links und hatte keine Ahnung, welche Richtung er einschlagen sollte.
    So, Freunde, hier steht Jack Sawyer, ganz allein auf weiter Flur, nass bis auf die Haut und mit schlammverkrusteten Schuhen. Und er hat noch einen weiten Weg vor sich.
    Einsamkeit und Heimweh wallten in ihm auf. Jack unterdrückte sie. Er befeuchtete seinen Zeigefinger mit einem Tropfen Speichel, dann versetzte er dem Tropfen einen scharfen Schlag, die größere der beiden Hälften flog nach rechts – jedenfalls kam es Jack so vor –, und so wandte er sich in diese Richtung und ging weiter. Vierzig Minuten später, zum Umfallen müde (und wieder hungrig, was irgendwie schlimmer war), entdeckte er eine Kiesgrube mit einem Schuppen hinter einer Zufahrtsstraße, die mit einer Kette versperrt war.
    Jack kroch unter der Kette durch und ging zu dem Schuppen. Vor der Tür hing ein Schloss, aber er sah, dass unter einer Seite des kleinen Gebäudes die Erde weggewaschen war. Es war eine Sache von Minuten, den Rucksack abzunehmen, durch das Loch hindurchzukriechen und dann den Rucksack zu sich hereinzuziehen. Er fühlte sich sogar sicherer, weil das Schloss vor der Tür hing.
    Er sah sich um und stellte fest, dass er von sehr alten Werkzeugen umgeben war – offensichtlich war der Schuppen seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden, und das konnte ihm nur recht sein. Er zog sich splitternackt aus – sein klammes, schlammbedecktes Zeug war ihm zuwider. In einer seiner Hosentaschen fand er die Münze, die Hauptmann Farren ihm gegeben hatte; sie lag dort wie ein Riese neben ein wenig normalem Kleingeld. Jack holte sie hervor und sah, dass Farrens Münze mit dem Kopf der Königin auf der einen und dem geflügelten Löwen auf der anderen Seite sich in einen Silberdollar von 1921 verwandelt hatte. Eine Zeitlang starrte er wie gebannt auf das Profil der Freiheitsstatue; dann ließ er sie wieder in die Tasche seiner Jeans gleiten.
    Er holte frische Sachen aus seinem Rucksack, überlegte, dass er die schmutzigen am Morgen einpacken – bis dahin würden sie getrocknet sein – und irgendwo unterwegs säubern würde – vielleicht in einem Laundromat, vielleicht im nächsten Fluss.
    Auf der Suche nach Socken stieß seine Hand auf etwas Glattes und Hartes. Er zog es heraus und sah, dass es seine Zahnbürste war. Unvermittelt stiegen Bilder von Heimat, Sicherheit und Ordnung all das, was eine Zahnbürste bedeuten konnte – in ihm auf und überwältigten ihn. Diesmal war er nicht imstande, diese Gefühle zu unterdrücken oder beiseitezuschieben. Eine Zahnbürste war etwas, das in ein gut beleuchtetes Badezimmer gehörte, etwas, das man mit einem Baumwollpyjama am Leibe und warmen Slippern an den Füßen benutzte. Nicht etwas, das vom Grunde eines Rucksacks auftauchte, in einem kalten, dunklen Werkzeugschuppen am Rand einer Kiesgrube in der Nähe eines verlassenen Dorfes, dessen Namen man nicht einmal kannte.
    Das Gefühl der Einsamkeit wallte in ihm auf; jetzt hatte er vollends begriffen, dass er ganz auf sich allein gestellt war. Jack begann zu weinen. Er weinte nicht hysterisch und kreischte auch nicht wie manche Leute, die Wut hinter Tränen verbergen; er weinte mit dem stetigen Schluchzen eines Menschen, der gerade entdeckt hat, wie einsam er ist und auf lange Zeit auch bleiben wird. Er weinte, weil Sicherheit und Vernunft aus der Welt verschwunden zu sein schienen. Die Einsamkeit war da, sie war eine Gewissheit; doch in seiner Lage lag auch der Wahnsinn im Bereich des Möglichen.
    Jack schlief ein, bevor sich alle Tränen ihren Weg gebahnt hatten. Er schlief um seinen Rucksack gerollt, nackt bis auf frische Unterhosen und Socken. Die Tränen hatten saubere Spuren auf seinen schmutzigen Wangen hinterlassen, und in der Hand hielt er seine Zahnbürste.

 
Achtes Kapitel
     
    Der Oatley-Tunnel
     
    1
     
    Sechs Tage später hatte sich Jack fast vollständig aus seiner Depression herausgearbeitet. Am Ende seiner ersten Tage auf der Straße war ihm, als wäre er vom Kind über den Jugendlichen direkt zum Erwachsenen gereift – zum Erwachsenen, der weiß, was er tut.

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