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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Glasscheibe der Musikbox, obwohl sie schon so sauber war, wie sie nur sein konnte. Er wartete nur darauf, dass Digger Atwell wegging. Nach einer Weile tat er es. Jack hob den Kopf, um zu sehen, wie der massige Polizist auf die Bar zustrebte – und in diesem Augenblick drehte sich der Mann am äußersten linken Ende der Bar um und sah ihn an.
    Randolph Scott, schoss es Jack durch den Kopf. Genau so sieht er aus.
    Aber ungeachtet seiner harten, unnachgiebigen Züge hatte der wirkliche Randolph Scott etwas unbestreitbar Heroisches an sich gehabt; hatte sein gutaussehendes Gesicht schroff gewirkt, so war es doch zugleich ein Gesicht gewesen, das lächeln konnte. Dieser Mann wirkte gelangweilt und irgendwie verrückt.
    Und jetzt erkannte Jack entsetzt, dass der Mann ihn ansah. Er hatte sich nicht nur während des Werbespots umgedreht, um zu sehen, wer sich im Lokal aufhielt; er hatte sich umgedreht, um Jack anzusehen. Jack wusste, dass es so war.
    Das Telefon. Das läutende Telefon.
    Unter Aufbietung aller Kräfte wandte Jack den Blick ab. Er richtete ihn wieder auf die Scheibe der Musikbox und sah darin sein eigenes verängstigtes Gesicht, das gespenstisch über den dahinter stehenden Schallplatten schwebte.
    Das Telefon an der Wand begann zu schrillen.
    Der Mann am linken Ende der Bar warf einen Blick darauf – und dann sah er wieder Jack an, der wie erstarrt vor der Musikbox stand, eine Flasche Windex in der einen und einen Lappen in der anderen Hand, während sich seine Haare sträubten und seine Haut gefror.
    »Wenn das wieder dieser Idiot ist, hole ich mir eine Pfeife und blas ihm in die Ohren, wenn er noch einmal anruft, Smokey«, sagte Lori, während sie auf den Apparat zuging. »Darauf kannst du Gift nehmen.«
    Sie hätte eine Schauspielerin in einem Film sein können und alle Gäste bloße Statisten mit einer Standardgage von fünfunddreißig Dollar pro Tag. Die einzigen beiden wirklichen Menschen in der Welt waren er, Jack, und dieser grauenhafte Cowboy mit den großen Händen und den Augen, die Jack nicht sehen konnte.
    Plötzlich, unheimlich formte der Mund des Cowboys die Worte: Schwenk deinen Arsch heimwärts. Dann blinzelte er ihm zu.
    Das Telefon hörte auf zu läuten, bevor Lori die Hand danach ausstrecken konnte.
    Randolph Scott drehte sich um, leerte sein Glas und rief: »Noch ein Gezapftes für mich, okay?«
    »Hol’s der Teufel«, sagte Lori. »In diesem Telefon spukt’s.«
     
    4
     
    Später, im Lagerraum, fragte Jack Lori, wer der Mann war, der wie Randolph Scott aussah. »Wie wer?« fragte Lori.
    »Ein alter Film-Cowboy. Er saß am unteren Ende der Bar.« Sie zuckte die Achseln. »Für mich sehen sie alle gleich aus, Jack. Ein Haufen blöder Hammel, die sich vollaufen lassen. Donnerstagabends tun sie es gewöhnlich mit dem Geld, das ihre Frauen beim Bingo gewonnen haben.«
    »Wenn er Bier will, verlangt er ›ein Gezapftes‹.«
    Ihre Augen erhellten sich. »Ach ja! Der. Er sieht gemein aus.« In ihrer Stimme lag Anerkennung, als sie das sagte – als bewunderte sie die Linie seiner Nase oder das Strahlen seines Lächelns.
    »Wer ist er?«
    »Ich weiß nicht, wie er heißt«, sagte Lori. »Er treibt sich erst seit ein oder zwei Wochen hier herum. Vielleicht stellt die Fabrik wieder neue Leute ein. Es …«
    »Herrgott noch mal, Jack, habe ich nicht gesagt, du sollst mir ein Fass herschaffen?«
    Jack war gerade dabei gewesen, eines der großen Fässer auf die Handkarre zu rollen. Weil das Gewicht des Fasses sein eigenes nahezu aufwog, war das eine Arbeit, bei der er sorgsam balancieren musste. Als Smokey ihn von der Tür aus anbrüllte, schrie Lori auf, und Jack fuhr zusammen. Er verlor die Kontrolle über das Fass, es kippte um, das Ventil schoss heraus wie ein Champagnerkorken, das Bier folgte in weißgoldenem Strahl. Smokey brüllte noch immer, doch Jack konnte nur wie gebannt auf das Bier starren, bis Smokey ihm einen Schlag versetzte.
    Als er ungefähr zwanzig Minuten später in die Gaststube zurückkehrte, ein Kleenex auf der anschwellenden Nase, war Randolph Scott verschwunden.
     
    5
     
    Ich bin sechs.
    John Benjamin Sawyer ist sechs.
    Sechs …
    Jack schüttelte den Kopf, versuchte, den stetig wiederkehrenden Gedanken zu verdrängen, während ihm der sehnige Fabrikarbeiter, der kein Fabrikarbeiter war, immer näher kam. Seine Augen – gelb und irgendwie schuppig. Er blinzelte, ein schnelles, milchiges, verschwimmendes Blinzeln, und Jack begriff, dass eine Nickhaut über seinen

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