Der Tanz des Maori (epub)
Im funzeligen Licht sah er die Stahlregale und meterweise Akten.
Neugierig ging Brandon die Regale entlang und strich sich ratlos durch die Haare. Hier konnte er nichts auf die Schnelle herausfinden. In dieses Archiv musste man sich wahrscheinlich stundenlang einarbeiten â und selbst dann war es fraglich, ob er hier ein Geheimnis lüften würde. Immerhin war das Archiv erst entstanden, als die Reederei gegründet wurde. Da war Ruiha schon lange wieder an der Westküste â wenn ihre Geschichte denn überhaupt stimmte.
Ganz allmählich erreichte Brandon die hintersten Regale. Der Staub zeigte, dass hier schon länger niemand mehr für Ordnung gesorgt hatte. Ein abgegriffener, dunkelgrüner Ordner wies die Jahreszahl 1937 auf. Das Jahr der Gründung der Pacific Shipping Company.
Brandon nahm den Ordner und trug ihn zu einem Tisch unter dem schwachen Licht und fing an zu blättern. Der Kauf des ersten Schiffes, der »Pacific Lady«. Die ersten Aufträge. Kohle von Westport nach Australien, später nach Indien. Er blätterte weiter. Der Anstellungsvertrag der ersten Sekretärin. Des ersten Kapitäns, der nicht mehr für ein Honorar, sondern für ein Monatsgehalt arbeitete.
Eine Kopie der Ãberschreibung des Hauses in Seddonville an eine Ruiha Taumaunu. Handschriftlich darauf die Bemerkung »Bezahlung für die Arbeit als Kindermädchen« in der unverwechselbaren steilen Handschrift seines GroÃvaters. Brandon stockte der Atem. Daher kannte Ruiha also seine Familie. Er versuchte, sich zu beruhigen. Das konnte auch bedeuten, dass sie wirklich das Kindermädchen von John gewesen war. Aber war das auch wirklich der Beweis für den Rest der Geschichte? Er legte die Kopie zur Seite.
Er blätterte weiter. Nichts mehr. Reparaturen für lecke Tanker und Lastkähne nach einem schweren Sturm. Ein Totalverlust nach einem Angriff durch die Japaner. Gewinne. Kalkulation für ein zweites Schiff, Anmeldung der »Pacific Shipping Company«. Die Jahresabschlussrechnung
Gedankenverloren schlug Brandon den Ordner wieder zu. Immerhin war der Kontakt von Ruiha zu seiner Familie das erste Mal ordentlich belegt. Das Kindermädchen. Genau, wie sie es Sina erzählt hatte. Aber war deswegen Onkel John wirklich der Onkel von Sina?
Brandon stellte den Ordner wieder an seinen Platz zurück, steckte die Kopie der Urkunde in die Brusttasche seines Hemdes und stieg wieder in den Aufzug. Ihm war jetzt die Laune vergangen, es war ihm nicht länger danach zumute, bei seinem Vater vorbeizuschauen. Stattdessen stieg er im Erdgeschoss aus, ging mit einem Nicken an dem Pförtner vorbei und setzte sich wieder in sein Auto. Egal, wie weit die Fahrt war: Er musste jetzt mit Ruiha sprechen. Wenn er ihr in die Augen sehen konnte, dann würde er wissen, ob ihre Geschichte wahr war. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass sein GroÃvater zu all den Verbrechen fähig war, deren Ruiha ihn bezichtigte. Aber es musste einen Grund geben, warum diese alte Frau ihn so sehr hasste ⦠Er drückte das Gaspedal durch und fuhr in Richtung Westen.
Die Canterbury Plains mit ihren goldgelben Wiesen leuchteten in der Nachmittagssonne, als er vorbeifuhr. Allmählich wurde es hügeliger, und mit der Dämmerung erreichte er schlieÃlich Arthurâs Pass. Zum Glück war er die zahllosen Kurven schon häufig gefahren â trotzdem war es Nacht, als sich die StraÃe endlich hinunter zum Meer senkte. So dringend Brandon Ruiha sehen wollte und so schwer es ihm auch fiel â er konnte die alte Frau unmöglich am späten Abend besuchen. Fast automatisch wollte Brandon schon zu Hakopas Hütte fahren, als ihm plötzlich einfiel, dass er seinen Freund jetzt auf keinen Fall sehen konnte. Wie sollte er sich verhalten? Sollte Ruiha doch recht haben â auch wenn das für ihn immer noch unvorstellbar war â, dann wäre sein bester Freund auch sein Cousin. So gering die Chancen dafür standen, so wenig wollte Brandon sich Hakopa gegenüber verstellen. Er hatte keine andere Wahl: Er musste in ein Hotel. Während er die StraÃe nach Seddonville fuhr, hielt er Ausschau nach einem Schild, das eine billige Bleibe für die Nacht versprach. Er musste nicht lange suchen â die Westküste begrüÃte jedes Jahr unzählige Touristen aus aller Welt, da gab es auch ausreichend Unterkunftsmöglichkeiten.
Er hielt unter einem Schild
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