Der tanzende Tod
gleichermaßen an Nora wie an mich stellte.
Wir traten aus dem Laternenlicht der Kutsche und sahen uns genau um.
»Nichts und niemanden«, antwortete Nora einen Augenblick später.
Ich deutete auf den niedrigsten Punkt in dem kleinen Tal vor uns. »Da ist etwas Weißes zu sehen.«
»Weiß?«, fragte Oliver und trat näher. »Wie ein Tuch?«
»Ich kann es nicht genau erkennen. Wer ist der Ansicht, dass wir es uns genauer ansehen sollten?«
Anscheinend war dies bei allen der Fall. Oliver und Jericho trugen Laternen, während Nora und ich vorangingen und die Kutsche unserer kleinen Gruppe langsam folgte. Wir marschierten über den unebenen Boden, so gut es uns möglich war, bis das weiße Objekt deutlicher zu sehen war. Jemand hatte sich beträchtliche Mühe gemacht, einen stattlichen Steinhaufen zusammenzutragen, indem er abgesplitterten Kalkstein aus der unmittelbaren Umgebung verwendet hatte. Auf seinem Gipfel war, etwa dreißig Zentimeter lang und einen Meter breit, eine Bahn weißen Stoffes gelegt und gut befestigt worden, damit sie nicht fortgeweht wurde.
Nun vernahm ich das Geräusch der See, stark und unerwartet laut. Selbst an dieser Vertiefung bildete der Boden eine Schräge, sodass der Blick darüber hinaus versperrt war. Ich ging an dem Steinhaufen vorbei und blieb abrupt stehen, als ich bemerkte, dass ich kurz vor einem schrecklichen Gefälle stand. Weit unter dem zerklüfteten Rand der ausgewaschenen Kalksteinklippe war der riesige, rastlose Schatten der See zu erkennen, dunkelgrau unter einem grauen Himmel.
»Ich würde sagen, dies ist der Ort«, sagte Oliver, der mich eingeholt hatte.
»Sei vorsichtig«, warnte ich ihn, trat mehrere Schritt zurück und streckte als Warnung eine Hand aus. »Der Boden ist hier sehr bröckelig. Clarinda erwähnte dies in der Nachricht.«
»Ja«, meinte er mit gerunzelter Stirn. »Und es war gewiss sehr anständig von ihr. Was nun?«
Ich blickte nach rechts und links an den Hügelkuppen entlang und erwartete beinahe, dass bewaffnete Männer auftauchen und wie eine Barbarenhorde auf uns zustürmen würden.
»Jonathan, wir haben etwas gefunden!«, rief Nora, was uns zur Rückkehr bewog. Olivers Lichtkegel gesellte sich zu dem ihren, wo Elizabeth und Jericho auf den Steinhügel starrten. Ich folgte ihrem Blick zu dem weißen Tuch, welches nicht durch das Gewicht des Kalksteins an seinem Platz gehalten wurde, sondern dadurch, dass das eine Ende an einen halb vergrabenen Lederbeutel gebunden war.
»Er muss ihnen gehören«, meinte Nora. »Er kann bei diesem Wetter nicht einfach dort liegen gelassen worden sein.«
Jericho begann damit, ihn herauszuziehen, und knurrte, als der Beutel an etwas hängen blieb. Er erneuerte seinen Griff und zog mit aller Kraft. Der Beutel löste sich und enthüllte gleichzeitig das Hindernis. Er besaß einen langen Trageriemen, und der Riemen war um den Arm eines Mannes gewickelt.
Auf diese Weise entdeckten wir den Leichnam von Arthur Tyne.
Die grauenhafte Ausgrabung dauerte nicht lange, da wir alle dabei mithalfen. So erschüttert, wie wir nach der ersten schrecklichen Erschütterung waren, war die Beschäftigung notwendig, um uns davon abzuhalten, zu viel nachzudenken. Zumindest empfand ich es so. Im Augenblick machte ich mir die größten Sorgen um Elizabeth und Nora, darum, wie dies sie in Mitleidenschaft ziehen könnte – bis ich begriff, dass ihre Besorgnis weitaus mehr meinem Wohlergehen als ihrem eigenen galt.
»Erschossen«, meinte Oliver nach einer kurzen Untersuchung. »Mitten ins Herz.«
»Warum haben sie ihn getötet?«, fragte Jericho, indem er sich den Staub von den Händen wischte.
Sie sahen mich an, als könne ich ihnen die Antwort liefern. »Vielleicht behinderte er sie.«
»Oder Clarinda benötigte ihn nicht mehr«, meinte Elizabeth. »Oder dieser Kapitän Summerhill entsprach eher ihrem Geschmack.«
»Was auch immer der Grund gewesen sein mag – sie wollten, dass wir ihn finden und verstünden, wie leicht... wie leicht es für sie ist zu töten und wie bereitwillig sie dies tun.«
Oliver stand auf. »Clarinda wird nicht zulassen, dass Richard auch nur ein Haar gekrümmt wird.« Er sprach dies so bestimmt aus, als glaube er daran.
Jede Antwort, die ich ihm hätte geben können, wäre entweder eine Lüge gewesen, wenn ich ihm zugestimmt hätte, oder hätte die Hoffnung, die er uns zu vermitteln versuchte, zerstört. Stattdessen deutete ich auf den Lederbeutel.
»Befindet sich etwas darin?«, fragte
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