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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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dich zu ihrem Propheten erheben würden.
    Doch selbst das reichte dir noch nicht«, fuhr er fort. »Wer keinen Einfluss hat, verliert nichts, wenn er dich zwischen sich und seine Götter setzt, denn er überlässt seine Möglichkeiten ohnehin anderen. Der Mensch neigt fast reflexartig dazu, sich wie ein Knecht zu verhalten. Aber wer Einfluss hat… Im Namen eines abwesenden Königs zu herrschen, bedeutet, uneingeschränkt zu herrschen. Früher oder später musste der Adel sich gegen dich stellen. Eine Krise war unvermeidlich…«
    Moënghus erhob sich bleich und verschwommen wie aus der Erde steigender Rauch und trat unter die wasserspeienden Augen. Einen Moment lang prasselte der Schwall auf ihn nieder. Dann stand er seinem Sohn tropfnass, im Lendenschurz und mit leeren Augenhöhlen gegenüber.
    Dampf stieg von seiner Haut auf.
    »… doch weiter hat mich die Wahrscheinlichkeitstrance nicht gebracht«, sagte das augenlose Gesicht.
    »Also hast du meine Visionen nicht vorausgesehen?«, fragte Kellhus.
    Das Gesicht seines Vaters blieb vollkommen reglos.
    »Welche Visionen?«
    Offenbar hatte er sich heiser geschrien. Einige Augenblicke vergingen, doch schließlich hörten die Hexenmeister in den roten Roben mit ihren schrecklichen Gesängen auf. Das Funkeln der Hexenkünste wurde schwächer und verblasste im Nichts. Trommeln dröhnten durch die lichterloh prasselnden Feuer.
    Eleäzaras lachte nicht länger. Er stand hinter den vordersten Einheiten seines Ordens inmitten des Infernos, in das die Scharlachspitzen die Stadt verwandelt hatten. Rauch trieb um die Trümmer, gewaltige Feuer flammten zum Himmel, Mauern ragten wie Rückenflossen aus Bergen zerbrochener Ziegel; die Verwüstung erstreckte sich unter sich langsam voranwälzenden Rauchschleiern bis zu dem übel zugerichteten Trümmerwall, der Stunden zuvor noch die mächtigen Tatokar-Mauern gewesen war. Im Schutz der Heterin-Mauer ragten die Hänge des Juterums aus den Flammenwänden. Wie nah es war! Er musste den Kopf in den Nacken legen, um die Kuppel und die Simse des Ctesarat über die Zinnen ragen zu sehen.
    Dort würden sie sie finden… die Attentäter.
    Die Cishaurim hatten sie eingeladen, und sie waren gekommen. Nach unzähligen Meilen und Entbehrungen – nach all der Erniedrigung! – waren sie da. Sie hatten sich an ihren Teil der Abmachung gehalten. Nun war es an der Zeit, die Gegenrechnung aufzumachen. Endlich!
    Was für ein Spiel spielen sie?
    Egal – er würde ganz Shimeh dem Erdboden gleichmachen, wenn es sein musste.
    Eleäzaras wischte sich mit einem purpurroten Ärmel, den Schweiß und Ruß dunkel färbten, das Gesicht. Trotz der Einwände seines Javreh-Hauptmanns Shalmessa schob er die großen, geflochtenen Schilde beiseite und ging zu einer riesigen Fingerkuppe aus Stein, die aus den Trümmern ragte. Wellen der Hitze schlugen ihm entgegen.
    »Kämpft!«, rief er den schwankenden Gestalten in der Ferne über ihm zu. Der schwarze Himmel drehte sich. »Kämpft!«
    Jemand zog an ihm, doch er schlug die Hände weg.
    Es war Sarothenes.
    »Hier sind Chorae in der Nähe, Eli, viele Chorae! Spürst du sie denn nicht?«
    Ein Bad täte mir gut, dachte Eleäzaras. Dann könnte ich diesen Irrsinn ab waschen.
    »Natürlich spüre ich sie«, stieß er hervor. »Unter den Trümmern – in den Händen der Toten.«
     
     
    Die Welt um ihn herum schien schwarz und leer und doch gleißend hell. Kellhus hob die Rechte. »Wenn ich meine Hände betrachte, sehe ich sie golden schimmern.«
    Genaue Prüfung. Berechnung.
    »Ich habe meine Augen nicht hier«, sagte Moënghus, und Kellhus begriff sofort, dass er die Nattern meinte, derer sich seine Ordensbrüder bedienten. »Die Erinnerung reicht mir, um mich durch diese Anlage zu bewegen.«
    Sein Vater wirkte so starr, dass er aus Stein hätte sein können. Sein Gesicht war seelenlos.
    »Spricht Gott denn nicht zu dir?«, fragte Kellhus.
    Genaue Prüfung. Berechnung.
    »Nein.«
    »Seltsam…«
    »Woher kommt seine Stimme denn?«, fragte Moënghus. »Aus welcher Dunkelheit?«
    »Keine Ahnung… Gedanken kommen, und ich weiß nur, dass es nicht die meinen sind.«
    Wieder eine kaum wahrnehmbare Pause. Er befindet sich in Wahrscheinlichkeitstrance – genau wie ich…
    »Verrückte sagen etwa das Gleiche«, erklärte Moënghus. »Vielleicht haben die Prüfungen, die du über dich hast ergehen lassen, deine Sinne verwirrt.«
    »Vielleicht…«
    Genaue Prüfung. Berechnung.
    »Es liegt nicht in deinem Interesse, mich zu

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